BRUCKNER AT NIGHT
BRUCKNER AT NIGHT bedeutet für Lilo Kunkel den spannenden „Versuch, in stimmungsvoller und stimmiger Atmosphäre ganz unauffällig zwei Themen zu verbinden, die absolut nichts miteinander zu tun haben“: Anton Bruckner und den Jazz. Auf ihrer faszinierenden „Reise zwischen Romantik und Swing- und Latin-Stilen, zwischen Unbekümmertheit und Melancholie, bei schnellem und langsamem Fahrtwind“ nutzte die unterfränkische Organistin mit dem einzigartigen Repertoire – wie sie vergnügt erzählte – „farbige, sorgfältig ausgesuchte Registerkombinationen, hauptsächlich nach dem Kriterium ‚historisch streng verboten‘“ ... Und mit diesen tauchte sie bei BRUCKNER AT NIGHT am 29. August 2024 im Rahmen des domorgelsommerlinz24 in die dunkle Zeit des Tages ein und brachte selbst Jubilar Anton Bruckner zum Swingen!
Bruckner! Der Improvisator Anton Bruckner (1824–1896) wurde mit dem Vorspiel aus Erwin Horns am 2. Juli 1993 in der Stadtpfarrkirche Vöcklabruck uraufgeführter Fantasie C-Dur gefeiert. Komponiert ist diese über zwei C-Dur-Themen, die der Genius Loci auf einer Visitenkarte notiert hatte und über dessen Großneffen in Horns Besitz gelangt war. Die ergänzte Notiz „zu St. Stefan 6. Okt. 1886“ führt Horn zur Vermutung, dass Bruckner die Themen für eine Improvisation bei der Präsentation der Walcker-Orgel im Wiener Stephansdom nutzte, das Neue Wiener Tagblatt berichtet am 7. Oktober 1886 aber von „einer in E-dur einsetzenden Phantasie, die mit den letzten kunstvoll fugirten Takten der Volkshymne zu einem ganz gewaltigen Abschluß gelangte“. Melodisch-rhythmisch erinnern die beiden Themen jedenfalls an das Finale der Achten Symphonie, an der Bruckner zu dieser Zeit arbeitete – und dieses Finale wird auch im letzten Matineekonzert der Saison durch Gerhard Raab erinnern.
A „The day is my enemy, the night my friend“ – so beginnt Cole Porters (1891–1964) All Through the Night, das für das am 21. November 1934 am Broadway uraufgeführte Musical Anything Goes als Ersatz für das zunächst vorgesehene Liebeslied Easy to Love entstand. Das charakteristische Merkmal der Melodie ist eine absteigende chromatische Tonleiter, die auf der Terz beginnt und nach vier Takten durch einen Oktavsprung unterbrochen wird. Cole Porter zählt wohl zu den wichtigsten Komponisten und Textdichtern des Great American Songbook – er komponierte etwa vierzig Musicals und unzählige Lieder, die schnell zu Evergreens wurden. Der elegant-mondäne Musikstil einerseits sowie die originellen Wortspielereien anderseits dürfen als Erfolgsgeheimnis Porters gelten, sodass er bereits 1928 nach seinem Durchbruch mit Paris zu einer Songschreibergröße der USA und zu „America’s Great Sophisticate“ avancierte. Porter, der in Paris die Schola Cantorum besucht hatte, zeigt in diesem Song einmal mehr seine besondere Liebe zur dunklen Zeit des Tages.
N Mit Nuages richtete sich Lilo Kunkels Blick zu den Wolken, die als Heimat der Sinti und Roma gedeutet werden können, entstammte der Schöpfer Django Reinhardt (1910–1953) doch einer Manouche-Familie aus dem Elsass. Die 1940 entstandene, anmutige wie ausdrucksstarke Instrumentalkomposition stellte Reinhardt während der deutschen Besetzung Frankreichs im Salle Pleyel vor: Das französische Auditorium war begeistert, denn Nuages stand für die Hoffnung auf Befreiung. Insofern verwundert es nicht, dass von der im Dezember 1940 aufgenommenen Platte des Songs mit dem leicht zu pfeifenden Motiv schnell mehr als 100.000 Exemplare verkauft wurden und Nuages zu Reinhardts Signation avancierte, der damit die Stufe eines Maurice Chevalier oder einer Josephine Baker erklomm. Reinhardts Berühmtheit und die Beliebtheit seiner Musik bewahrten ihn bis Kriegsende auch davor, wie viele seiner Verwandten verfolgt und im Konzentrationslager ermordet zu werden. Heute gilt der „bei weitem erstaunlichste Gitarrist aller Zeiten“ (Jeff Beck), Komponist und Bandleader, der aus dem New-Orleans-Jazz der 1920er-Jahre, den französischen valses musettes und der traditionellen Spielweise der Sinti den Gypsy Swing schuf, als Begründer des europäischen Jazz. Nuages ist übrigens ein Lieblingssong von Quincy Jones (*1933) ...
T ... und aus dessen Feder stammte der anschließend musizierte Klassiker The Midnight Sun Will Never Set. Jones erlangte als Produzent von Michael Jackson (u.a. bei Thriller als meistverkauftem Album aller Zeiten) und erster Afroamerikaner an der Führungsspitze eines Major-Labels Bekanntheit. Nach einem Studium bei Nadia Boulanger in Paris (1957) nahm er 1958 mit Arne Domnérus und der Harry Arnold Band The Midnight Sun Will Never Set auf, das sich in deren Heimat Schweden besser verkaufte als Elvis. Am bekanntesten ist das Werk wohl durch die Aufnahme von 1959 mit Phil Woods. 1994 erhielt Jones als „boundary-transcending musical magician“ neben Nikolaus Harnoncourt den renommiertem Polar Music Prize.
O Das von Lilo Kunkel musizierte On a Misty Night entstammte schließlich dem Œuvre des amerikanischen Pianisten, Komponisten und Arrangeurs Tadd Dameron (1917–1965). Eventuell handelt es sich hier um eine Kontrafaktur von September in the Rain (1937) von Harry Warren und Al Dubin. Dameron zählt gemeinsam mit Gil Fuller und Dizzy Gillespie zu den wegbereitenden Arrangeuren des frühen Bebop, obwohl er das Orchestrieren autodidaktisch erlernt hatte. In Erinnerung geblieben ist Dameron insbesondere durch seine Kompositionen, die „zu den sanglichsten und melodisch eingängigsten des Bebop“ (Hans-Jürgen Schaal) zählen.
N Eines der berühmtesten Lieder des amerikanischen Songwriters David Mann (1916–2002) ist No Moon at All aus dem Jahr 1947. Den Gesangspart des von Redd Evans getexteten Songs übernahm bei der ersten Aufnahme Doris Day. No Moon at All orientiert sich an den barocken Akkordwechseln von Johann Sebastian Bachs Doppelviolinkonzert. Obwohl Mann 1955 mit dem spontan verfassten Song In the Wee Small Hours of the Morning durch Frank Sinatras legendäres, 1984 in die Grammy Hall of Fame aufgenommenes Album, als dessen Titelsong es fungierte, einen unglaublichen Erfolg verzeichnen konnte, wechselte er 1963 das Genre und schrieb fortan über 30 Jahre für die Lokalzeitung The Suburban Trends in New Jersey.
B Einen Nummer 1-Hit landeten Komponist Harold Arlen (1905–1986) und Dichter Johnny Mercer mit Blues in the Night in der 1941 von Woody Herman eingespielten Version. Geschaffen wurde der Song für den gleichnamigen Musicalfilm, interpretiert wurde er darin von dem afroamerikanischen Bariton William Gillespie. An die Geburtsstunde des Werks aus dem Great American Songbook erinnert sich die Sängerin Margaret Whiting – bei ihr spielten Arlen/Mercer den Blues einer Gruppe Schauspieler:innen vor: „Mel [Tormé] got up and said, ‚I can‘t believe it.‘ Martha [Raye] couldn‘t say a word. Mickey Rooney said, ‚That‘s the greatest thing I‘ve ever heard.‘ Judy Garland said, ‚Play it again.‘ We had them play it seven times. Judy and I ran to the piano to see who was going to learn it first. It was a lovely night.“ Auch Arlen, Sohn eines jüdischen Kantors, erinnerte sich später: „The whole thing just poured out. And I knew in my guts, without even thinking what Johnny would write for a lyric, that this was strong, strong, strong!“ Weltweit bekannt ist Arlen für Over the Rainbow (aus: The Wizard of Oz), das 1940 mit einem Academy Award für den besten Song ausgezeichnet wurde.
R Der Pianist Thelonious Monk (1917–1982) gilt neben Charlie Christian, Kenny Clarke, Dizzy Gillespie und Charlie Parker als Begründer des Bebop. Sein eigenwilliger Stil und seine unverwechselbaren Kompositionen machten ihn zu einem wichtigen Innovationsmotor des Modern Jazz. Round Midnight mit den überraschenden Harmoniefolgen ist dabei einer der am häufigsten von Künstler:innen verschiedener Musikgenres aufgenommenen Jazzstandards. Das Copyright für die lyrische Komposition meldete Monk erst im September 1943 an, erste Entwürfe reichen wohl bis ins Jahr 1936 zurück. Nach diesem Archivdasein folgte am 22. August 1944 auf Initiative des mit Monk befreundeten Pianisten Bud Powell endlich eine Aufnahme durch Cootie Williams and His Orchestra. Eng verbunden mit Round Midnight ist seit dem Newport Jazz Festival 1955 auch Miles Davis. Davis und Monk gerieten auf der Festivalrückreise jedoch in Streit: Monk warf Davis vor, das Stück falsch musiziert zu haben. Davis wiederum bat den Festivalleiter Wein, Monk doch auszurichten, dass er die falschen Noten gespielt habe. Wein konterte: „Sag’s ihm selbst, er hat das Stück geschrieben.“ Der Streit war bald Geschichte, verdeutlicht aber, was der Kritiker Whitney Balliett analysierte: „Seine Improvisationen sind verflüssigte Kompositionen, seine Kompositionen sind gefrorene Improvisationen.“
U Als „a cozy ballad about a couple snuggled together under a deep blue evening sky“ beschreibt The Tin Pan Alley Song Encyclopedia den 1933 veröffentlichten Song Under a Blanket of Blue des als Urheber zahlreicher Songs für Film und Fernsehen bekannten Jerry Livingston (1909–1987). Der Jazzkritiker Will Friedwald resümiert zu diesem Jazzstandard mit dem ungewöhnlichen Songtitel: „This is a song about a nocturnal encounter, hence the blue blanket of stars.“
C Von Pianist Thelonious Monk stammte auch das liebevoll-romantische, dabei aber durchaus kantige Crepuscule with Nellie. Zig Werktitel des „introvertierten Exzentrikers“ beziehen sich auf vertraute Personen: Das im Herbst 1957 auf der LP Monk’s Music veröffentlichte Stück richtete sich an Monks Frau Nellie, die er zehn Jahre zuvor geheiratet hatte. Monks Werk ist durch auf Schlüsselpassagen vorbereitende Triolenfiguren sowie chromatische Bewegungen in Fanfare bzw. Bridge charakterisiert. Crepuscule with Nellie zeigt so Momente der Behaglichkeit und der Ungewissheit, dieses emotionale Changieren entsprach Monks Gefühlslage: Denn Nellie wurde 1957 wegen einer Schilddrüsenerkrankung operiert. Monks Biograph Kelley bezeichnete Crepuscule als „einzige durchkomponierte Komposition“ ohne improvisierte Teile: „It is Monk‘s concerto, if you will, and in some ways it speaks for itself. But he [...] really struggled to make it sound the way it sounds. [...] It was his love song for Nellie.“
K Bei Bruckners Klavierstück in Es-Dur handelt es sich um eine Gelegenheitskomposition für Klavier zu zwei Händen, die – so ergaben Analysen des Papiers und der musikalischen Struktur – 1862/63 im Zuge der Ausbildung beim Linzer Kapellmeister Otto Kitzler entstanden sein muss. Eventuell war das Werk Teil des Kitzler-Studienbuchs und wurde später anderweitig genutzt. Das nur achtzehn Takte umfassende Stück ist zweiteilig angelegt: Auf einen ruhigen Abschnitt folgt ein dramatischer, der nach einem Fortissimo wieder verhallt (morendo). Stilistisches Vorbild hinsichtlich Melodik und scheinpolyphonem Satz dürften wohl Felix Mendelssohn Bartholdys Lieder ohne Worte gewesen sein. Auf Bruckners Original folgte in BRUCKNER AT NIGHT schließlich eine „kunkelnde“ Variation darüber ...
N „Night and Day, you are the one“ – wer kennt den Cole-Porter-Song aus dem Musical Gay Divorce nicht? Die am 29. November 1932 von Fred Astaire und Leo Reisman and His Orchestra uraufgeführte Ballade wurde im selben Jahr zum Nummer 1-Hit. Als Jazzstandard wurde der Song bis heute vokal wie instrumental von zig Künstler:innen aufgenommen. „Unusual“ ist Night and Day in jeglicher Hinsicht – und es markiert wohl Porters berühmtesten Liedbeitrag zum Great American Songbook. Es kann als Beguine oder Swing interpretiert werden – nicht einig ist man sich bis heute bei der Inspirationsquelle für das Stück: Manche berichten, Porter habe der Muezzinruf auf einer Marokko-Reise angeregt, andere identifizieren die maurische Architektur des Alcazar Hotels in Cleveland Heights als Ausgangspunkt des Evergreens. Und wieder andere vermuten, Porter habe ein Mosaik im Mausoleum der Galla Placidia in Ravenna während seiner Flitterwochen zu Night and Day inspiriert.
E Für Erroll Garner (1921–1977), den Schöpfer von Erroll’s Bounce und dem berühmten Misty gilt: Klein, aber oho! Diesem nur 157 Zentimeter großen Wunder der Jazzgeschichte am Klavier flogen die Töne nur so zu. Der Komponist des Modern Jazz und stilbildende Pianist in Nachfolge von Jelly Roll Morton, Fats Waller und Art Tatum trat bereits im Alter von sechzehn Jahren rund um Pittsburgh auf und spielte als Solist in Bars, Stummfilmtheatern und sonntags als Kirchenmusiker. Nach seinem Umzug nach New York 1944 spielte er in den Jazzclubs der 52nd Street, gründete 1945 ein Pianotrio, mit dem ihm rasch ein Hit (Laura) gelang. In seinem Klavierspiel verband Garner Elemente des Stride-Piano und Bebop mit romantischen und barocken Elementen. Er besaß eine virtuose Technik, die er nicht nur am Jazz, sondern an Klavierwerken von Chopin, Liszt, Rachmaninow und Ravel geschult hatte, obwohl er keine Noten lesen konnte. Garners Überzeugung verwundert so nicht: „I always play what I feel. I always feel like me, but I‘m a different me every day. I get ideas from everything. A big color, the sound of water and wind, or a flash of something cool. Playing is like life. Either you feel it or you don‘t.“
R „We‘re going to find romance in the dark“, sang die in Mississippi geborene Lil Green (1919–1954). Sie verlor früh ihre Eltern und trat bereits im Teenageralter auf; ihr musikalisches Handwerk verfeinerte sie beim Gospelgesang in der Kirche. Im Chicago der 1930er-Jahre trat Green, von Willie „Big Bill“ Broonzy (1903–1958) an der Gitarre begleitet, auf und landete 1940 mit Romance in the Dark einen Hit in den Billboard Top 30, der später von zig Künstlerinnen gecovert wurde. Green zählt mit ihrem sinnlichen Sopran zu den heimlichen Heldinnen des Blues der 1940er-Jahre.
At Night! „There‘s a proper kind of music for each hour of the day“, wusste Django Reinhardt. Und jene für diese ganz besondere Stunde im Mariendom bei BRUCKNER AT NIGHT ließ nicht nur das Publikum, sondern auch die größte Kirche Österreichs groovend in die Nacht gehen ... dank des begeisterten Beifalls des zahlreich erschienenen Publikums gab's noch eine Zugabe von Lilo Kunkel, die bei ihrem domorgelsommerlinz-Konzert von ihrem Ehemann Bert Stenger bestens an der Rudigierorgel unterstützt wurde. Und diese Zugabe war eine legendäre: Moonlight Serenade von Glenn Miller (1904–1944). Aufgenommen wurde die Moonlight Serenade am 4. April 1939 und als B-Seite des Covers der Sunrise Serenade veröffentlicht. Moonlight Serenade avancierte in der im Mai 1939 als Instrumentalversion veröffentlichten Version zu Glenn Millers Erkennungsmelodie im unverwechselbaren Miller-Sound – diese Aufnahme wurde 1991 auch in die Grammy Hall of Fame aufgenommen. Und in die Hall of Fame der coolsten Konzerte an der Rudigierorgel lässt sich Lilo Kunkels BRUCKNER AT NIGHT sicher einreihen!
Glenn Miller (1904–1944): Moonlight Serenade | Rudigierorgel: Lilo Kunkel
Stefanie Petelin
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