BRUCKNER TODAY
Domorganist Wolfgang Kreuzhuber begab sich in BRUCKNER TODAY am 15. August 2024 auf die Spuren zweier Giganten, die im Jahr 2024 Jubiläen feiern und in ihrem gemeinsamen Kosmos volle Strahlkraft erlangen – gemeint sind der 1824 geborene Anton Bruckner und der 1924 geweihte Mariendom.
„Improvisieren ist für mich das Eintauchen in neue Klangwelten“, erzählte der passionierte Improvisator vor dem Improvisationskonzert mit seiner musikalischen Lebensliebe aus Dänemark im domorgelsommerlinz-Interview. Denn für den Verlauf einer Orgelimprovisation spielt das dabei genutzte Instrument eine wesentliche Rolle.
Und wie sehr die Rudigierorgel aus dem Hause Marcussen & Søn die Fantasie beflügeln kann, weiß man bereits seit ihrer Weihe 1968. Als „Schlußstein im Dom, der durch sie sehr an Schönheit gewonnen hat und durch sie berühmt wurde“ (Dompfarrer Josef Ledl, 1901–1980), hat diese bedeutende Künstler wie Anton Heiller (1923–1979) zu beeindruckenden Improvisationen inspiriert, die in diesem Sektor Maßstäbe setzten und Orgelmusikgeschichte schrieben.
Faszination des Ephemeren
Improvisieren – das bedeutet, in Echtzeit zu komponieren. Eine Improvisation – das ist Musik, die sich entdeckt, wenn sie bereits (ver)klingt. Denn die Improvisation verbindet auf faszinierende Weise Spontanes mit Geplantem. Das Nach- und Vor-Denken ist Teil des Prozesses selbst – und damit auch der Musik. Am Orgelsektor stehen die liturgische und konzertante Improvisation ästhetisch, technisch und historisch von jeher in sehr enger Verbindung.
Voraussetzung für eine gelungene Improvisation ist eine ausgezeichnete Kenntnis der Orgelliteratur, insbesondere dann, wenn es sich um eine Stilimprovisation handelt. Diese beabsichtigt dabei keine qualitativ hochwertige, künstlerische Fälschung, sondern den schöpferischen und kreativen Umgang mit einer Epoche, wofür eine Beherrschung der Techniken und Fertigkeiten der jeweiligen Zeit unabdingbar ist. Wie bei einer freien Rede liegt anfangs das Thema – musikalischer oder außermusikalischer Art – vor, formale Strukturen, klangliche und technische Umsetzung entstehen schließlich im Geist des Improvisierenden. Dazu verriet Kreuzhuber im Interview: „Spontane Einfälle und vielleicht auch Ungeplantes machen die Improvisation zu einem unvergesslichen Werk, das in exakt dieser Form nicht mehr zu hören sein wird und im Verklingen unwiederbringlich vorbei ist. Schon oft wurde ich nach Konzerten gefragt, ob es die Improvisation notiert oder als Aufnahme gibt … doch: Das Musizieren im Hier und Jetzt ist ein Wesensmerkmal der Improvisation.“ Vermutlich ist es aber auch gerade diese „Flüchtigkeit der Spur“ (Alain Corbin, *1936), die Ausführende wie Zuhörende so fasziniert ...
Inspiration der Giganten
„Ohne der Versuchung zu erliegen, historische Improvisationskonzerte Anton Bruckners nachzuempfinden, spielten für die Konzeption des Konzerts historische Berichte und Programme eine Rolle – denn nur wer das Gestern kennt, kann es ins Heute (oder gar ins Morgen) holen“, erzählt Wolfgang Kreuzhuber als Bruckners fünfter Nachfolger im Amt des Domorganisten an der Kathedrale von Linz, zu dem man vom jeweiligen Linzer Diözesanbischof ernannt wird.
Die hohe Reputation des Organisten Bruckner gründet sich fast ausschließlich auf sein Wirken als Improvisator – ob beim liturgischen Orgelspiel oder in konzertanter Form bei zuweilen exklusiven Veranstaltungen. Denn bekanntermaßen existieren nur wenige Orgelkompositionen des Genius Loci. Soundhistorische Spuren seines für immer verklungenen Schaffens finden sich aber auch im Linzer Mariendom, begleitete der von 1854/55 bis 1868 als Domorganist tätige Bruckner den Dombau doch nicht nur mit bedeutsamen Kompositionen wie der Messe in e-Moll, WAB 27, sondern speiste auch improvisierte Orgelklänge ins Klangarchiv der größten Kirche Österreichs ein: Denn Bruckner spielte beim Diözesanjubiläum 1885 sowohl auf dem kleinen „Positiverl“ der Votivkapelle (Hanel, 1869, 7/I/P), als auch 1887 auf der damals neuen Chororgel (Lachmayr, 1887, 34/II/P) auf der Seitenempore bei einem Orgelkonzert und bei der 25-Jahr-Feier der Grundsteinlegung, bei der sich Bruckner „unendlich“ freute, sein Te Deum, WAB 45, „zum erstenmale beim Gottesdienste in jener Kirche zu hören, welche ihm so sehr an‘s Herz gewachsen sei“.
Die Begrüßung nahm Domorganist Wolfgang Kreuzhuber „hinterrücks“ von der Orgelempore vor und tröstete schmunzelnd das Publikum, dass es auf der Orgelempore mit 29,1 Grad noch ganze zwei Grad wärmer sei als in den Kirchenbänken.
Klangfarbenreich!
Gleich am Beginn von BRUCKNER TODAY erweiterte Domorganist Wolfgang Kreuzhuber entsprechend dem Klangfarbenreichtum seiner faszinierenden Rudigierorgel die programmatische Palette Bruckners durch eine Improvisation, die formal als französische Suite – vergleichbar mit jenen de Grignys oder Couperins – mit den Sätzen Prélude, Tierce en taille, Jeu de flûte und Grand jeu en dialogue angelegt, harmonisch aber von Wolfgang Kreuzhubers gemäßigt moderner Tonsprache geprägt war. Der Suite hatte er spontan den Hymnus Christus, du bist bist der helle Tag (GL 90) unterlegt. In verschiedenen Formen und Farben erklangen die vier Sätze, die in Frankreich ab dem 17. Jahrhundert auch im liturgischen Bereich als Alternatimsätze – abwechselnd zu gregorianischen Ordinarien oder Hymnen – musiziert wurden, so an diesem Konzertabend in der Sprache unserer Zeit.
Jubelnd!
Über Themen von Georg Friedrich Händel (1685–1759) bzw. in dessen Stile zu improvisieren, bereitete Bruckner offenbar größte Freude: Mehrmals finden sich in zeitgenössischen Berichten Hinweise auf Improvisationen Bruckners mit Bezug zu dem umtriebigen Barockkomponisten. Besonders gerne wählte er dafür aber wohl ein Thema – das Hallelujah aus dem Oratorium Messiah, HWV 56. Dokumentiert sind Improvisationen über das allseits bekannte und beliebte Stück ab 1870 – insbesondere bei seinem London-Aufenthalt Anfang August 1871 im Zuge der Organ Recitals an der großen Orgel der Royal Albert Hall (Henry Willis & Sons, 1871, 110/IV/P) während der London International Exhibition of 1871 of Selected Works of Fine and Industrial Art, Scientific Inventions and Music improvisierte Bruckner in seinen Programmen mehrfach über das Händel-Halleluja. Und beim Weihekonzert der von Matthäus Mauracher (1818–1884) umgebauten großen Orgel des Stifts St. Florian (1774/1875, 78/IV/P) im Oktober 1875 stand eine „Freie Phantasie über zwei Themate aus Händels ‚Alleluja‘ von Professor Bruckner“ auf dem Programm, wie Wilhelm Paillers (1838–1895) Pressebericht verrät – und von dieser Idee und diesem Titel ließ sich Domorganist Kreuzhuber in seiner freien Improvisation inspirieren.
Ungestüm!
Eine improvisierte Fantasie im frühromantischen Stil führte musikalisch schließlich in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und damit in Anton Bruckners Jugendjahre. Überwunden ist in der Frühromatik formal wie harmonisch bereits der klassische Stil eines Haydn, Mozart oder Beethoven – das Poetische, das Übersinnliche, die Rückbesinnung auf die Vergangenheit gelangen nun in den Fokus künstlerischer Auseinandersetzungen. Insbesondere in der Form der Fantasie finden neue Stilmittel ihren Raum, so formuliert der deutsche Musiktheoretiker und Komponist Heinrich Christoph Koch (1749–1816) in seinem Musikalischen Lexikon von 1802: „So nennet man das durch Töne ausgedrückte und gleichsam hingeworfene Spiel der sich ganz überlassenen Einbildungs- und Erfindungskraft des Tonkünstlers, oder ein solches Tonstück aus dem Stegreife, bey welchem sich der Spieler weder an Form noch Haupttonart, weder an Beybehaltung eines sich gleichen Zeitmaaßes, noch an Festhaltung eines bestimmten Charakters, bindet, sondern seine Ideenfolge bald in genau zusammenhängenden bald in locker an einander gereiheten melodischen Sätzen, bald auch nur in nach einander folgenden und auf mancherley Art zergliederten Akkorden, darstellet.“ Charakteristika einer Improvisation im frühromantischen Stil sind nicht nur ihre Virtuosität, sondern auch große Stimmungsunterschiede durch kontrastierende Elemente wie angereicherte Akkorde und lyrische Melodieverläufe. Und das machte Domorganist Wolfgang Kreuzhuber an der Rudigierorgel gut hörbar.
Vielfältig!
Bevor sich Wolfgang Kreuzhuber in seiner abschließenden Improvisation thematisch noch einmal dem 19. Jahrhundert zuwandte, wies eine Choralpartita im modernen Stil tonsprachlich bereits ins Heute.
In einer Variationsreihe wurde der Choral dabei vielfältig verarbeitet. Im Zuge einer „musikalischen Diskussion“ der Choralmelodie gab der Linzer Domorganist die schönsten Klangverbindungen der Rudigierorgel preis: Von der vierstimmigen Harmonisation über eine verzierte Oberstimme, von der triomäßigen Verarbeitung bis hin zum abschließenden Schlusschoral. Eine Überraschung war die Choralauswahl des in Personalunion als Interpret und Komponist in Echtzeit fungierenden Kreuzhuber … es war nicht Großer Gott, wir loben Dich – auch wenn der am Mariendom tätige Chordirigent Johann Baptist Burgstaller (1840–1925) Anton Bruckner nach der Feier des Diözesanjubiläums 1885 öffentlich „für die Herablassung, mit welcher der Heros der Organisten der Gegenwart bei der Schlußfeier auf der kleinen Orgel des Maria Empfängniß=Domes so schön und ergreifend präludirt und das ganze 12stroph. ‚Großer Gott‘ dem christgläubigen Volke begleitet hat“, gedankt hatte – sondern die aus dem 16. Jahrhundert stammende Melodie von Nun lobet Gott in hohem Thron (GL 393).
Symphonisch!
Ein Improvisationskonzert im Bruckner-Jubiläumsjahr darf nicht enden, ohne symphonische Sphären zu betreten. Dies meint jedoch nicht die zeitliche Ausdehnung des Improvisierens – Bruckner soll bekanntlich gerne lang und ausführlich „fantasirt“ haben – und auch nicht das Nachbilden einer Bruckner-Symphonie auf der Orgel. Intention Kreuzhubers war vielmehr, den vier Sätzen großteils Bruckner-Themen zu unterlegen, um durch deren symphonische Verarbeitung eine Brücke zwischen historischer Form und moderner Tonsprache zu schlagen und den gewaltigen Symphoniker Bruckner durch die Klänge der Rudigierorgel erlebbar zu machen und konzerttitelgemäß ins Heute zu holen.
Die vier Satztitel Allegro maestoso, Cantabile, Scherzo und Finale verstanden sich dabei gleichermaßen als Form und Inhalt: Das erhabene Allegro maestoso legte den Grundstein für die vier symphonischen Sätze – passend dazu hatte Wolfgang Kreuzhuber ein Thema aus Bruckners Fest-Cantate bei Gelegenheit der Grundsteinlegung zum Dombau am 1. Mai 1862, WAB 16, gewählt. Bruckner sang mit dieser von Bischof Rudigier (1811–1884) beauftragten Komposition „des neuen Domes Wiegenlied“, wie es Domkapellmeister Franz Xaver Müller (1870–1948) später anlässlich der Domweihe 1924 formulierte.
Von einem dank Bruckners Schüler Franz Marschner (1855–1932) überlieferten Thema, das Anton Bruckner in einer Improvisation beim österlichen Hochamt 1884 an der Orgel des Prager Veitsdoms verarbeitete, war hierauf das lyrische Cantabile inspiriert. Danach erfand Wolfgang Kreuzhuber ein eigenes Thema für das tänzerische Scherzo. Im lebhaften Finale kombinierte Kreuzhuber schließlich sein eigenes Thema mit jenem Thema, das Bruckner 1871 vor einem seiner Konzerte in der Royal Albert Hall in einem verschlossenen Umschlag als Basis für seine Improvisation erhalten hatte. In diesem vierten Satz improvisierte Kreuzhuber im Mittelteil außerdem eine Fuge, was Anton Bruckner als Freund von Fugen sicher große Freude bereitet hätte.
Wolfgang Kreuzhuber (*1957): Symphonisches in vier Sätzen – 4. Finale. Vivace | Rudigierorgel: Domorganist Wolfgang Kreuzhuber
Durch diese Klammer zwischen Bruckner und Kreuzhuber machte der heutige Linzer Domorganist dem Konzerttitel BRUCKNER TODAY wahrlich alle Ehre! Genaues Hinhören lohnte sich bis zum Verklingen des letzten Tons, denn am Schluss des Finale verneigte sich Wolfgang Kreuzhuber mit dem Anfangsmotiv von Anton Bruckners Te Deum noch einmal vor den beiden jubilierenden Giganten, die ihn musikalisch präg(t)en ... im Hier und Jetzt, im Gestern, Heute und Morgen!
Kräftigen Applaus für das „grandiose Konzert“ (wie man bei den Gesprächen danach aufschnappen konnte) und Standing Ovations gab's vom domorgelsommerlinz-Publikum – der Linzer Domorganist verabschiedete sich, bewusst schlicht nach all dem, was zuvor in die Klangarchive der Domgemäuer eingespeist worden war, mit der Zugabe Guten Abend, gut Nacht. Nach dem Konzert resümierte ein zufriedener, aber auch geschaffter Domorganist: „Rückblickend auf jahrzehntelange Erfahrung beim Improvisieren, ordne ich dieses Konzert wirklich als einen meiner Höhepunkt ein. Hoch erfreut und dankbar darf ich sagen, dass ich sehr viel von den Wunschvorstellungen, die ich im Vorfeld hatte, umsetzen konnte.“ Und er durfte sich über begeisterte Rückmeldungen vom domorgelsommerlinz-Publikum freuen – wie sagte zum Beispiel eine Konzertbesucherin so schön: „Du wirst immer besser … und Deine Improvisationen – grade die von heute Abend – muss man unbedingt für die Nachwelt sichern … und dann spielt das in 200 Jahren dann jemand im Mariendom unter dem Titel KREUZHUBER TODAY …“
Stefanie Petelin
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