ESPACE SONORE
Denn ESPACE SONORE meint für den elsässischen Organisten Thierry Mechler die Fähigkeit, „immersive Klanglandschaften zu schaffen, die physische und zeitliche Grenzen überschreiten und es dem Publikum ermöglichen, durch verschiedene Emotionen, Klangfarben und Atmosphären zu reisen“, wie er im Vorfeld im domorgelsommerlinz-Interview verraten hatte.
Tonangebend!
Dem Werktitel entsprechend öffnete Bachs Overture nach Französischer Art, BWV 831, den ersten Klangraum des Abends. Allerdings handelt es sich um keine Ouvertüre im klassischen Sinne, sondern um eine Partita mit elf Sätzen, die unterschiedliche Tanzformen verkörpern und dabei meisterhaft die Eleganz und Raffinesse französischer Musik atmen. Wie viele andere Komponist:innen war der Thomaskantor und Musikdirektor Leipzigs von der Charakteristik und Klangpracht der französischen Musik fasziniert.
Diese Faszination bringt er in seiner 1735 im Zweyten Theil der Clavier Ubung veröffentlichten und allen „Liebhabern zur Gemüths-Ergötzung“ verfertigten Komposition zum Ausdruck. Neben Frankreich erweist Bach darin Italien als weiterem tonangebenden Land dieser Epoche mit seinem Concerto nach Italiænischen Gusto Reverenz. Die Bezeichnung Ubung ist jedoch keineswegs im heutigen Sinne zu verstehen, denn die enthaltenen Werke sind alles andere als leicht spielbar – Bach präsentiert darin seine umfassende musikalische, philosophische und technische Auseinandersetzung mit den Stilarten dieser Zeit. Bei der Overture nach Französischer Art handelt es sich um eines von sechs großen Instrumentalwerken Bachs in h-Moll. Zunächst hatte er diese noch in c-Moll notiert, die Transposition erfolgte erst im Zuge der Veröffentlichung. Der von Mechler musizierte eröffnende Satz der Overture weist ein prägnantes Thema auf, das in den einzelnen Stimmen kunstvoll verarbeitet wird, und präsentiert sich so reich verziert und doch höchst anmutig, wie die Hörprobe beweist:
Johann Sebastian Bach (1685–1750): Zweyter Theil der Clavier Ubung:
Overture nach Französischer Art h-Moll, BWV 831: 1. Overture| Rudigierorgel: Thierry Mechler
Poetisch!
Mit Bach setzte sich auch der Schöpfer des nächsten Werkes intensiv auseinander und brachte den sächsischen Altmeister so auf seine Weise dem zeitgenössischen Publikum nahe: Franz Liszt. Als „Le petit Litz“ war dieser nicht nur ein gefeierter Klaviervirtuose, sondern mit über 1300 Kompositionen und Bearbeitungen auch ein äußerst produktiver Musikschaffender seiner Zeit.
Darüber hinaus gilt Franz Liszt als Begründer einer neuen musikalischen Gattung, der symphonischen Dichtung (Poème symphonique). Diesen einsätzigen, groß angelegten Orchesterwerken, von denen in Franz Liszts Zeit als Weimarer Hofkapellmeister zwölf entstanden, liegen stets außermusikalische Sujets zugrunde: Die in ESPACE SONORE erklungene vierte symphonische Dichtung Orpheus, LW.G9, macht in ihm – wie er im Vorwort des Werks schreibt – das „Andenken an eine etrurische Vase in der Sammlung des Louvre […] wieder lebendig, auf welcher jener erste Dichter-Musiker dargestellt ist“. Uraufgeführt wurde das Werk unter der Leitung des Komponisten am 16. Februar 1854 als Introduktion zur Weimarer Erstaufführung von Christoph Willibald Glucks Oper Orfeo ed Euridice. Liszts in drei Teile gegliedertes, vermutlich in der Altenburg entstandenes Werk zeichnet sich durch lyrische Schönheit und expressive Tiefe aus, die Mechler in der Orgeltranskription von Jean Guillou aus dem Jahr 1976 zum Tönen brachte. Er machte hörbar, was Franz Liszt in seinem Vorwort schrieb: „Heute wie ehemals und immer ist es Orpheus, ist es die Kunst, welche ihre melodischen Wogen, ihre gewaltigen Akkorde wie ein mildes, unwiderstehliches Licht über die widerstrebenden Elemente ergiesst, die sich in der Seele jedes Menschen, und im Innersten jeder Gesellschaft in blutigem Kampf befehden.“
Barock!
Eine kollegiale Beziehung verband Liszt mit Felix Mendelssohn Bartholdy, der 1840 vor einem Leipziger Konzert in einem Brief seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, „[…] er wird nicht verändert […] und derselbe gute Lumpen sein, wie ich ihn damals in Paris kannte“. Wenige Jahre zuvor (1837) hatte Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig die Sammlung Sechs Präludien und Fugen für Klavier, op. 35, publiziert. Zunächst hatte er noch bei der Herausgabe gezögert, wie ein Brief an den befreundeten Ferdinand Hiller von Januar 1837 verdeutlicht: „Ich habe heute meine 6 Präludien und Fugen in die Druckerei geschickt; sie werden wenig gespielt werden, fürchte ich, dennoch möchte ich gern Du sähest sie Dir seiner Zeit mal durch, und es gefiele Dir etwas darin und Du sagtest es mir, sammt dem vorkommenden Gegentheil. […] Gott lasse mir bald eine recht lustige Clavier Passage einfallen, damit ich den übeln Eindruck verwischen kann.“ Mendelssohns Sorge war völlig unbegründet: Nach Erscheinen des Werks im Sommer 1837 lobte Robert Schumann in der Neuen Zeitschrift für Musik die Kompositionen, die „nicht allein Fugen, mit dem Kopf und nach dem Recept gearbeitet, sondern Musikstücke, dem Geiste entsprungen und nach Dichterweise ausgeführt“, seien. Praeludium und Fuga, MWV U 116 und U 66, in e-Moll erklangen in Mechlers Orgelbearbeitung: Sie machten einerseits Mendelssohns Verehrung barocker Musik, andererseits dessen kreativen Umgang mit dem Genre hörbar. Die Fuga als Höhepunkt von Mendelssohns kontrapunktischer Kunst dürfte spätestens 1831 entstanden sein, das barocke Formen mit romantischer Expressivität verbindende Praeludium durch die Komposition des Oratoriums Paulus wohl erst im Sommer des Jahres 1836.
Romantisch!
Das symphonische Schaffen Anton Bruckners feierte Mechler in ESPACE SONORE mit einer von ihm erstellten Orgelfassung des Andante aus Bruckners bekannter Vierter Sinfonie in Es-Dur, WAB 104,2, die durch ihren Schöpfer den Beinamen Die Romantische trägt. Die erste Fassung des Constantin Prinz zu Hohenlohe-Schillingfürst gewidmeten Werks entstand 1874 – und in typischer Bruckner-Manier blieb es nicht bei einer, so schrieb er im Oktober 1877 an Wilhelm Tappert: „Ich bin zur vollen Überzeugung gelangt, dß meine 4. romant. Sinfonie einer gründlichen Umarbeitung dringend bedarf.“ Es folgten mehrere Umarbeitungen – erstmals erklang die Romantische am 20. Februar 1881 durch die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Hans Richter im Wiener Musikverein in Gestalt der zweiten Fassung.
In einem Brief vom Dezember 1890 an den Dichter Paul Heyse beschrieb Bruckner den Satz als „Lied, Gebeth, Ständchen“, gegenüber Freunden hingegen soll er bereits 1888 im Zuge einer Klavier-Teilaufführung launig geäußert haben: „Im zweiten will ein verliebter Bursch fensterln geh‘n, wird aber von dem Mädchen nicht eingelassen.“ Theodor Helm meint hier allerdings „eine Art Trauerzug“ gehört zu haben. Welches Bild auch immer sich vor dem inneren Auge auftun mag: Ein feierliches, lyrisches Thema zu Beginn schafft eine majestätische Atmosphäre, bevor harmonische Verschiebungen und orgelartige Klänge dem Satz epischen Charakter verleihen, sodass das Andante verschiedene Stimmungen – von introspektiven Passagen bis zu kraftvollen Höhepunkten – präsentiert.
Impressionistisch!
In impressionistische Klangräume entführte anschließend Claude Debussys hochvirtuoses Klavierstück L’Isle Joyeuse, L. 109 (106), in einer Orgelfassung von Thierry Mechler. Debussy äußerte sich zum Werk in einem Brief an seinen Verleger im September 1904: „Wie schwer es zu spielen ist … dieses Stück scheint alle Arten, mit dem Klavier umzugehen, in sich zu vereinen, denn es hat Kraft und Anmut.“ Er verglich das 1903 entstandene, im Folgejahr überarbeitete und am 10. Februar 1905 im Pariser Salle Aeolian von Ricardo Viñes uraufgeführte Stück mit seinen hellen Farben und lichtdurchfluteten Trillerketten 1914 in einem Brief an Désiré Walter außerdem mit Antoine Watteaus Bild L’Embarquement de Cythere (1717), das die Einschiffung nach Kythera – in der griechischen Mythologie die Geburtsstätte der Aphrodite, die im 18. Jahrhundert zur Insel des Glücks und der Sinnesfreuden stilisiert wurde – zeigt: „Alles endet im Glanz der untergehenden Sonne.“
Ein Ganztonmotiv des lydischen Trillers im ersten Takt zieht sich dabei als roter Faden durch die Komposition. Im Sommer 1904 erfolgte bei einem Aufenthalt auf der Kanalinsel Jersey eine umfassende Umarbeitung des Stücks, sodass der Titel auch als Anspielung auf die sonnenreichste britische Insel, auf die sich Debussy und Emma Bardac nach Bekanntwerden ihrer Liebesbeziehung zurückgezogen hatten, interpretiert wurde – zumal Debussy im Titel statt dem französischen Wort île das englische Wort isle verwendet. Auch eine Partiturskizze des Komponisten verrät: „Die beiliegenden Takte gehören Madame Bardac – kleine Meine – die sie mir an einem Dienstag im Juni 1904 diktierte.“ Ob der biographische Bezug gegeben ist oder nicht – das Stück sprühte vor Energie und Spielfreude, die Klangbilder mit den fließenden Arpeggios, der spannenden Harmonik und den subtilen Dynamikänderungen regten die Phantasie an und schufen vor dem inneren Auge die Atmosphäre der glücklichen Insel, diese „prächtige Vision, beseelt von Freude und Überschwänglichkeit“, wie die mit Claude Debussy befreundete Pianistin Marguerite Long das Werk beschrieben hatte.
Vollendet!
Marguerite Long war es auch, die das anschließend musizierte Werk Maurice Ravels am 11. April 1919 im Pariser Salle Gaveau uraufführte: Mit der Toccata aus dem sechssätzigen Le Tombeau de Couperin, M. 68, legte Mechler dabei erneut ein Klavierwerk in Orgelbearbeitung vor. Tombeau meinte in der französischen Barockmusik dabei vor allem Gedächtnismusiken für verstorbene Musiker, laut Ravels autobiographischer Skizze richtet sich diese Hommage aber „eigentlich weniger an Couperin selbst als an die französische Musik des 18. Jahrhunderts“.
Die Konzeption der Klaviersuite erfolgte bereits 1914 bei Ravels Sommeraufenthalt in Saint-Jean-de-Luz, durch seinen Kriegseinsatz konnte er die Suite mit ihren alten Tanzformen Fugue, Forlane, Rigaudon und Menuet allerdings erst 1917 fertigstellen. Die sechs Sätze sind dabei je einem im Ersten Weltkrieg gefallenen Kameraden Ravels gewidmet. Der letzte Satz – die in ESPACE SONORE musizierte Toccata – ist dem am 24. August 1914 umgekommenen Musikwissenschafter Joseph de Marliave, dem Gatten der mit Ravel befreundeten Pianistin Marguerite Long, zugeeignet. Mit zeitgenössischer Harmonik und impressionistischen Klangfarben schuf Ravel so eine Tanzsuite, die trotz ihres memorialen Charakters und ihrer Sehnsucht nach einer fernen und verlorenen Welt keine Trauermusik darstellt.
Die mit der Bezeichnung vif überschriebene Toccata ist das schnellste und temperamentvollste Stück der Suite. Sie besticht insbesondere durch die Kombination verschiedener Klangfarben und Texturen, Experimente mit der Dynamik und dem Tempo, sodass Ravel, der sich sonst selten zu seiner Musik äußerte, diese gegenüber der Violinistin Hélène Jourdan-Morhange stilistisch als „vollendet“ bezeichnete.
Improvisiert!
Und Thierry Mechler vollendete sein Konzert schließlich mit einer weiteren Verneigung vor dem Jahresregenten Bruckner. Er nutzte dazu die hohe Kunst der Improvisation, der der Genius Loci selbst so gerne frönte, wie hatte Mechler bereits im domorgelsommerlinz-Interview erklärt: „Die Improvisation ist eine faszinierende und kreative Ausdrucksform: Sie erlaubt dem Organisten, in Echtzeit spontane musikalische Entscheidungen zu treffen und eine persönliche, einzigartige Klangwelt zu erschaffen.“ Und diese einzigartigen Klangräume schuf Mechler zum Finale des Konzertabends ESPACE SONORE mit seiner mächtigen, improvisierten Hommage à Anton Bruckner ...
Begeistert!
Mechler hatte das große domorgelsommerlinz-Publikum von der ersten Konzertsekunde an in seinen Bann gezogen. Nachdem bereits während des Konzerts mehrfach Zwischenapplaus für den elsässischen Organisten aufgebrandet war, folgten am Schluss schließlich begeisterter Beifall und Standing Ovations für die fulminante musikalische Leistung. (Diese ist übrigens noch höher einzuschätzen, wenn man weiß, was das Publikum nicht wusste: Denn Mechler hatte dieses anspruchsvolle Programm – an der Rudigierorgel mit ihrer mechanischen Ton- und Registertraktur – ohne Unterstützung von Registrant:innen bewerkstelligt!) Als Dank dafür musizierte Thierry Mechler bei seiner Zugabe Johann Sebastian Bachs Choralbearbeitung Erbarm dich mein, o Herre Gott, BWV 721, die vermutlich aus der Arnstädter Zeit des Komponisten (um 1704) stammt; die früheste Quelle für das Werk ist zwischen 1710 und 1714 zu datieren.
Der Dommusikverein Linz und das domorgelsommerlinz-Publikum sagen nach diesen faszinierenden Klangräumen, die Mechler in den Mariendom gezaubert hat: „Merci beaucoup pour ce concert fantastique et à bientôt !“
Stefanie Petelin
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