Bruckner-Resonanzen
„Bei keinem anderen hat die Mitwelt weniger Notiz von seiner Eigenart genommen wie bei Bruckner. Kaum sonstwo ist das biographische Material ein so kärgliches wie bei diesem Einsam-Großen“, konstatierte August Göllerich (1859–1923). Darum luden die Bruckner-Resonanzen mit Domorganist Wolfgang Kreuzhuber an der Rudigierorgel und Manuel Klein am Mikrofon ein, dem Menschen Anton Bruckner (1824–1896) in Wort und Musik näher zu kommen. Texte von und Anekdoten zu Bruckner verbanden sich darin kongenial mit seinen Kompositionen und Bearbeitungen für Orgel sowie Tonschöpfungen von Mathilde Kralik von Meyrswalden (1857–1944), Franz Xaver Müller (1870–1948), Johann Nepomuk David (1895–1977) und Karl Borromäus Waldeck (1841–1905) in Resonanz auf den Giganten.
Grundstein. „Ihm war es beschieden, des neuen Domes Wiegenlied zu singen. Die ersten Klänge, die zu Mariens Preis bei der feierlichen Grundsteinlegung am 1. Mai 1862 zum Himmel rauschten, waren Brucknerklänge.“ Das berichtet Franz Xaver Müller im Fest-Bericht zur Domweihe 1924. Und darum stand am Anfang dieser Bruckner-Resonanzen auch eine – für Orgel eingerichtete – Kostprobe der Fest-Cantate (WAB 16), die Bruckner anlässlich der Grundsteinlegung für vierstimmigen Männerchor, Männer-Soloquartett und Blasorchester komponiert hatte und mit den Worten „Preiset den Herrn, lobsingt seinem heiligen Namen!“ den Akt des Hammerschlags durch Dombaumeister Vincenz Statz begleitete.
Erinnerungen. Franz Xaver Müller lernte Anton Bruckner und dessen Orgelspiel während seiner Zeit als Sängerknabe in St. Florian (1880 bis 1883) kennen und pflegte auch fortan Kontakt zu Bruckner, von dem er in weiterer Folge wesentliche Impulse als Komponist erhielt. Viele persönliche Eindrücke und Erinnerungen Müllers sind so in das Orgelwerk In memoriam Anton Bruckner eingeflossen. Eine Erinnerung Müllers zum Schmunzeln rezitierte Manuel Klein an diesem Konzertabend als Kontrast zu Bruckners eigener recht nüchterner Lebensdarstellung:
Franz Xaver Müller (1870–1948): Persönliche Erinnerungen an Meister Antonius (Ausschnitt) | Rezitation: Manuel Klein
Das 1930 publizierte Stück widmete Müller – zu diesem Zeitpunkt bereits Domkapellmeister am Mariendom Linz – dem damaligen Domorganisten Ludwig Daxsperger (1900–1996). Gekennzeichnet ist die beeindruckende Komposition, die den Gestus symphonischer Werke Bruckners besitzt, durch dynamische Wechsel und klangliche Verdichtungen.
Studienwerk. Zwei Jahre nach seiner Rückkehr nach St. Florian entwarf Bruckner eine Fuge über ein c-Moll-Thema, das mit kleiner Terz und kleiner Sext aufwärts bereits ein typisches Bruckner-Profil trägt. Ein Vermerk auf dem ersten Blatt der mit 15. Januar 1847 datierten Fuge verrät Bruckners Idee hinter der Komposition: Es handelt sich um den Versuch, verschiedene Kontrapunkte in der Fuge zu verwirklichen („NB. Versuchen / versch Contr.“). Der Fuge fügte er ein zwölftaktiges Vorspiel hinzu, das melodisch und rhythmisch das Thema der Fuge andeutet und mit dichten Alterationsklängen eine monumentale Wirkung erzielt. Heute zählt Vorspiel und Fuge c-Moll (WAB 131) trotz des von Bruckner intendierten Übungscharakters der Komposition und des skizzenhaften Erscheinungsbildes des Autographs mit Korrekturen, Streichungen, Überschreibungen, Zusätzen, fehlenden Vorzeichen und Tintenklecksen zu Anton Bruckners bekanntesten Orgelwerken. Mit St. Florian verbanden sich auch die von Manuel Klein rezitierten Erinnerungen von Sängerknaben aus Bruckners Zeit als Lehrer in St. Florian und die Anekdote rund um Prälat Arneth, nach dessen Geschmack es Bruckner am Cäcilientag 1852 wieder einmal zu bunt getrieben hatte.
Fest. Bruckner und die Frauen, das ist natürlich ein eigenes, abendfüllendes Thema. Am Konzertabend selbst rückte – nach einer Anekdote rund um eine andere, nur mäßig begabte Linzer Schülerin Bruckners – die in Linz geborene spätromantische Komponistin Mathilde Kralik von Meyrswalden als sehr begabte Studentin bei Bruckner in den Fokus. Kralik nahm nach ihrer Übersiedlung nach Wien ein Jahr privat Unterricht in Kontrapunkt bei Anton Bruckner, bis sie im Oktober 1876 in die Kompositionsklasse des Wiener Konservatoriums eintrat. Bruckner war neben Joseph Hellmesberger (1828–1893) auch unter den Juroren beim „Concours der Ausbildungsschule für Composition“ 1878, bei dem Kralik – gemeinsam mit ihrem Kommilitonen Gustav Mahler (1860–1911) – einen ersten Preis erhielt. In den Bruckner-Resonanzen erklang ein Auszug von Kraliks majestätisch-meisterhaftem Festmarsch für die Orgel, gespielt aus dem Autograph der Komponistin.
Nachempfindung. Ein treuer Begleiter und Mitstreiter Bruckners in Bruckners Zeit als Linzer Dom- und Stadtpfarrorganist, in der es – wie man Kleins Rezitation verschiedener Bruckner-Briefe entnehmen konnte – der Komponist nicht immer leicht hatte, war Karl Borromäus Waldeck. Er folgte Bruckner ab 1868 zunächst als provisorischer, später als definitiver Domorganist nach. Wie Bruckner zählte Waldeck zu den Wagnerianern, sodass der damalige Diözesanbischof Ernest Maria Müller Waldecks Musizieren gar als „Wagnerianismus im Orgelspiele“ bezeichnete. Waldecks Fantasie für große Orgel nach einem Thema von Anton Bruckner (WV I.1.4) entstand im Oktober 1867 unter dem Eindruck einer Improvisation Bruckners über Motive aus Ludwig van Beethovens Ouvertüre zu „Coriolan“. Virtuos und beeindruckend präsentierte sich die in Form eines Präludiums konzipierte Fantasie mit einer Reihe von nah verwandten Stufen bei der Interpretation durch Wolfgang Kreuzhuber an der Rudigierorgel.
Offenbarung. Bruckners Vorliebe für Tonarten wandte sich Klein ebenso zu wie den Skurrilitäten rund um den oberösterreichischen Tonkünstler – dazu zählen beispielsweise Bruckners zwanghaftes Zählen und sein Hang zu Sensationellem und Spektakulärem. Sensationell präsentierte sich in den Bruckner-Resonanzen definitiv das Streichquintett in F-Dur (WAB 112), Bruckners kammermusikalischem Hauptwerk, das zwischen November 1878 und Juli 1879 entstand. Erstmals vollständig uraufgeführt wurde das Herzog Maximilian Emanuel in Bayern gewidmete Werk am 5. April 1884 in Wien durch das erweiterte Winkler-Quartett. Bruckner selbst muss das Quintett sehr hoch geschätzt haben, dafür spricht einerseits die Wahl des hochrangigen Widmungsträgers, andererseits die testamentarische Verfügung von 1893, das Manuskript der Hofbibliothek zu vermachen. Das Adagio „[gehört] zu dem Zartesten, Verklärtesten, Innerlichsten und Klangschönsten, was überhaupt von langsamen Sätzen seit Beethoven geschrieben wurde“, lobte das Musikalische Wochenblatt nach der Uraufführung im April 1884. Joseph Hellmesberger nannte das Quintett gar eine „Offenbarung“ – eine größere Zahl von Aufführungen im In- und Ausland folgte und leistete einen wesentlichen Beitrag für eine breitere Anerkennung Bruckners.
Prägnanz. Das Präludium für Harmonium in C-Dur (WAB 129) entstand, nachdem der Perger Lederhändler Josef Diernhofer Bruckner um eine Komposition für sein Pedalharmonium als Andenken an die gemeinsame Bahnfahrt nach Bayreuth im Juli 1884 gebeten hatte. Seine Uraufführung erlebte das Stück durch Bruckner am 21. August 1884 in der Stiftskirche Kremsmünster, zu der Bruckner über seinen Schüler P. Oddo Loidol (1858–1893) eine besondere Verbindung hatte. Das Notenblatt verrät außerdem: „Dieses Präludium hat Bruckner bei seinem Orgelconzerte in Kremsmünster am 21. Aug. 884 als ersten Satz gespielt und dann weiter ausgesponnen. Fr. Oddo Loidol.“ Bruckners ursprüngliche Skizze aus St. Florian hatte 24 Takte umfasst, in Kremsmünster erweiterte er seine Reinschrift auf 27 Takte. In seinem Begleitbrief an Diernhofer kommentierte Bruckner: „Wenn es Ihnen gefallen sollte, werde ich mich sehr freuen. […] Ihr edler Geschmack u. Kunsteifer gereicht Ihnen zur höchsten Ehre.“ Harmonisch wie motivisch weist das Stück bereits deutlich auf die Achte Sinfonie, WAB 108, an der Bruckner ab Juli 1884 arbeitete. Trotz seiner Kürze trägt das Werk prägnante Züge, die mit Bruckners symphonischer Reife einhergehen. In die Musikgeschichte eingegangen ist das landläufig als Perger Präludium bezeichnete Werk als singuläres und letztes Orgelstück Bruckners.
Kontrapunkt. Der aus Eferding stammende Komponist Johann Nepomuk David, selbst von 1905 bis 1909 Sängerknabe in St. Florian und damit bei der Öffnung von Bruckners Sarkophag zu dessen zehnten Todestag zugegen, fühlte sich Bruckner zeitlebens sehr verbunden und nahm sich 1926 mit seinem zweisätzigen Werk Praeludium und Fuge über ein Thema von Bruckner des bereits im November 1884 formulierten Wunsches von P. Oddo Loidol an Bruckner an, eine Orgelfuge über das zweite Kremsmünsterer Thema vom 21. August 1884 auszuarbeiten. Gewidmet ist Davids Werk dessen Schüler Franz Illenberger (1907–1987). Wenige Jahre später (1932) konzipierte David das Werk für die Weihe der „Bruckner-Orgel“ in St. Florian – nach diesem Umbau durch die Gebrüder Mauracher erstmals als solche bezeichnet – neu als Introitus, Choral und Fuge für Orgel und 9 Blasinstrumente über ein Thema von A. Bruckner. Das Werk von 1926 aber, das im Archiv längere Zeit auf seine Wiederaufführung durch Wolfgang Kreuzhuber gewartet hatte, präsentierte – wenn auch nur in einem Werkausschnitt – in den Bruckner-Resonanzen auf eindrucksvolle Weise den Kontrapunktiker David.
Improvisation. Mit den Namen Anton Bruckner verbindet sich natürlich auch die hohe Kunst der Improvisation – dass Bruckner da durchaus pragmatisch dachte, zeigte Klein, indem er Bruckner selbst in Form eines Briefs von 1864 an seinen Freund Weinwurm zu Wort kommen ließ: „Ich habe wenig Zeit u Lust, mich sonderlich in dieser Beziehung zu plagen; denn es hat keinen Zweck; Organisten sind stets schlecht gezahlt, u wenn man Konzerte am Ende nicht mit Vorteil arrangiren kann meine ich, ists am besten unentgeltlich, u dann auch nur Fantasien etc. ohne Noten aus dem Kopfe zu spielen.“ Bruckner schrieb’s und tat’s: Denn bei seiner Paris-Reise im Frühling 1869 in Notre-Dame de Paris improvisierte er an der ein Jahr zuvor fertiggestellten Cavaillé-Coll-Orgel der Kathedrale über ein Thema von Charles-Alexis Chauvet (1837–1871), Titularorganist an der erst 1867 geweihten Église de la Sainte-Trinité. Erhalten ist das Thema als autographe Eintragung in einem Stammbuch von Johanna Zimmerauer am Tag von Bruckners Geburtstag des Jahres 1869. Bruckners Bearbeitung des Themas soll in dreiteiliger Form unter den Ohren zahlreicher französischer Musiker erfolgt sein. Zurück in Oberösterreich lancierte Anton Bruckner Medienberichte über seine musikalischen Erfolge als Orgelimprovisator in Frankreich, die jedoch allein auf seinen Informationen beruhten und aus heutiger Sicht in mehreren Punkten korrekturbedürftig sind. Klein berichtete dabei schelmisch auch von den sehr unterschiedlichen Einschätzungen zu Bruckners Improvisationskünsten – die bei den Bruckner-Schülern P. Oddo Loidol und Heinrich Schenker sehr unterschiedlich klingen.
Wie auch immer es um Bruckners Improvisationskunst wirklich bestellt war: Bruckners Freude am Improvisieren teilt Domorganist Wolfgang Kreuzhuber, der fünfte Nachfolger Bruckners als Linzer Domorganist. Und daher beschloss die Bruckner-Resonanzen eine Orgelimprovisation über Chauvets Thema von 1869, die so eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart schlug:
Wolfgang Kreuzhuber (*1957): Improvisation über das von Charles-Alexis Chauvet gegebene Thema für Anton Bruckners Improvisation in Notre-Dame de Paris (1869) | Rudigierorgel: Domorganist Wolfgang Kreuzhuber
Gästefazit. Unter den zahlreichen Gästen wurden u.a. gesichtet: Bischof Manfred Scheuer, Bischofsvikar und Domkustos Johann Hintermaier, Dompfarrer und Domdechant Maximilian Strasser, Domkapitular emeritus Maximilian Mittendorfer, Rektor Christoph Niemand, die Universitätsprofessor:innen Anna Minta und Ewald Volgger, Domkapellmeister emeritus Josef Habringer und Domkapellmeister Andreas Peterl sowie Jägerstätter-Biographin Erna Putz.
Auch Musikkritiker Michael Wruss war bei den Bruckner-Resonanzen zugegen und lobte beide Ausführenden des Abends: „Domorganist Wolfgang Kreuzhuber hat im Mariendom feine Annäherungen konzipiert und in Manuel Klein den idealen Rezitator oft augenzwinkernder Geschichten gefunden.“ (Oberösterreichische Nachrichten, 29. April 2024) Kreuzhuber wurde außerdem als „starker Improvisator“ (ebd.) hervorgehoben: „Über jenes Thema, das Bruckner von Charles-Alexis Chauvet in Paris gestellt bekam, fantasierte er fantastisch und vermutlich ebenso gewandt wie sein großer Vorgänger. Ein großer Konzert-Abschluss.“ (ebd.) – Fazit des Kritikers: „Eine begeisternde Annäherung an den Organisten Bruckner.“ (ebd.)
Stefanie Petelin
OÖ Landes-Kultur GmbH/Anton Paul Huber (Bruckner, modifiziert) – Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin (Gestaltung) (Sujet) | Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin (Fotos der Bruckner-Resonanzen)