Bach allein!
Musik zur Fastenzeit von Johann Sebastian Bach (1685–1750) stand im Fokus der ORGEL.LITURGIE am 17. März 2024 (Kapitelamt am 5. Fastensonntag), die Dommusikassistent Gerhard Raab unter dem Motto Bach allein! an der Rudigierorgel zu Gehör brachte. Der Geburtstag des Komponisten jährt sich am 21./31. März 2024 zum 339. Mal. Gleich zwei Mal waren in der ORGEL.LITURGIE Bachs Choralbearbeitungen über Luthers Nachdichtung des Bußpsalms 130 Aus tiefer Not schrei ich zu dir (BWV 686 und BWV 1099) zu hören, auch eine Bachische Bearbeitung des Chorals über den von Erhard Hegenwald verdeutschten Bußpsalm 51 Erbarm dich mein, o Herre Gott, der vor genau 500 Jahren veröffentlicht worden war, stand mit BWV 721 neben Präludium und Fuge in e-Moll (BWV 533) auf dem Programm.
Mit der Gemeinde im Linzer Mariendom feierten Dompfarrer Maximilian Strasser, Diakon Alexander Niederwimmer sowie als Gäste Gruppen der Ackermann-Gemeinde und der Gemeinschaft Christlichen Lebens.
Präludium und Fuge in e-Moll, BWV 533
Zum Einzug musizierte Dommusikassistent Gerhard Raab Johann Sebastian Bachs Präludium und Fuge in e-Moll, BWV 533, das aufgrund der Akkordik des Präludiums und der Rhythmik der Fuge vermutlich in Bachs Arnstädter Zeit (1703 bis 1707) zu datieren ist. Erhalten sind dabei zwei Fassungen des Werks, zum einen die noch rein manualiter und so wohl für Cembalo konzipierte Frühfassung, zum anderen eine Neukonzeption des Werkes für Orgel unter Berücksichtigung des Pedals. Die Komposition besticht durch prägnante Motivik und klare formale Disposition der Fuge und ermöglicht durch die für Bach geringeren spieltechnischen Anforderungen eine weite Verbreitung. Mit nur zwei Durchführungen präsentiert sich Bachs Fuge eher knapp – das Werk bleibt daher zweiteilig, was möglicherweise seiner Frühform für Cembalo geschuldet ist. Je zwei Mal erklingt in Bachs Fuge, für die möglicherweise die Fuge C-Dur von Georg Böhm (1661–1733) Pate gestanden hatte, der sogenannte „Nachtwächterruf“ sowie ein eine Terz umfangendes Achtelmotiv.
Zur Fuge bemerkte Albert Schweitzer in Die Orgelwerke J. S. Bachs – Vorworte zu den „Sämtlichen Orgelwerken“: „Man brachte den Namen ,Nachtwächter-Fuge’ für sie auf, weil man der Ansicht war, Bach habe sich in dem Thema damit belustigt, den Hornruf des Nachtwächters nachzuahmen. […] Nicht das Horn des Nachtwächters, sondern die Posaune des letzten Gerichts erschallt in dieser Fuge. Es ist, als ob Bach das Unerbittliche in seiner ganzen Majestät darstellen wollte.“
Aus tiefer Not schrei ich zu dir, BWV 1099
Aus der sogenannten Neumeister-Sammlung stammt das zur Gabenbereitung musizierte Aus tiefer Not schrei ich zu dir, BWV 1099. Bei der Neumeister-Sammlung handelt es sich um eine im Bach-Jahr 1985 an der Yale University in New Haven, Connecticut, von Christoph Wolff, Hans-Joachim Schulze und Bibliothekar Harold E. Samuel wiederentdeckte Manuskriptkopie von 82 Choralvorspielen, die der Friedberger Organist Johann Gottfried Neumeister (1757–1840) nach 1790 zusammengestellt hatte. Neben Werken des jungen Johann Sebastian Bach, die anschließend als BWV 1090 bis 1120 in dessen Werkverzeichnis aufgenommen wurden, finden sich darin unter anderem Kompositionen von Johann Christoph Bach (1642–1703), Johann Michael Bach (1648–1694), Johann Pachelbel (1653–1706) oder Neumeisters Lehrer Georg Andreas Sorge (1703–1778).
Die Komposition Aus tiefer Not schrei ich zu dir ist heute als Neumeister-Choral Nr. 10 gelistet – vorherrschendes Prinzip der Komposition ist dabei die Imitation jeder Choralzeile. Bachs Komposition, die mit frei-kanonischem Beginn, tänzerischem 12/8-Takt, unbeschwerten Kuckuck-Motiven und seufzendem Adagio eine Kombination mehrerer Satztypen zu einem Orgelchoral darstellt, basiert damit auf einem Kirchenlied von Martin Luther, das dieser um die Jahreswende 1523/1524 als Nachdichtung des Bußpsalms 130 verfasst hatte.
Erbarm dich mein, o Herre Gott, BWV 721
Bachs – von Gerhard Raab zur Kommunion an der Rudigierorgel musizierte – Choralbearbeitung Erbarm dich mein, o Herre Gott, BWV 721, stammt vermutlich aus der Arnstädter Zeit des Komponisten (um 1704). Die früheste Quelle für das Werk ist zwischen 1710 und 1714 zu datieren. Mit diesem Choralvorspiel lehnte sich Bach offensichtlich an ein Kantatenvorbild des estnischen Buxtehude-Schülers Lovies Busbetzky (erstmals erwähnt 1687, gestorben 1699) an – im Schaffen des Komponisten bleibt diese Verarbeitungstechnik jedoch ein Einzelfall. Ein ähnlicher Effekt des Flehens findet sich in Johann Kuhnaus (1660–1722) Sonata I: Der Streit zwischen David und Goliath aus dessen 1710 bei Immanuel Tietzen publizierter Sammlung Musicalische Vorstellung einiger biblischer Historien in 6 Sonaten auff dem Claviere zu spielen. Die reiche Harmonik von Bachs Orgelchoral, der innerhalb seines Schaffens wohl singulär steht, geht hingegen über alle Vorbilder hinaus.
Bei Erbarm dich mein, o Herre Gott handelt es sich um eine Nachdichtung des Bußpsalms 51 von Erhard Hegenwald und diese Nachdichtung des Miserere mei dominus feiert 2024 ihren 500. Geburtstag – so berichtet Carl Bertheau 1880 in der Allgemeinen Deutschen Biographie: „Am Freitag nach Epiphaniä des Jahres 1524 erschien zu Wittenberg auf einem offenen Blatt in groß Querfolio von einem Erhart Hegenwalt [sic!] gedichtet eine deutsche Bearbeitung des 51. Psalms Miserere mei dominus, das Lied 'Erbarm dich mein, o Herre Gott, nach deiner großen Barmherzigkeit', in fünf achtzeiligen Strophen. Schon an einem der ersten Tage des Jahres 1524, vor dem genannten Freitag, der der 7. Januar war, hatte Luther in einem Briefe an Spalatin, in welchem er diesen ausdrücklich auffordert, sich auch bei der jetzt nöthigen Dichtung deutscher Psalmen zu betheiligen, angedeutet, daß eine solche Bearbeitung des Psalmes Miserere mei schon in Arbeit sei; Luther kann hierbei nur an das wenige Tage später erschienene Lied Hegenwald's gedacht haben, das dann schon im J. 1524 im Erfurter Enchiridion und sodann fast in jedem neu erscheinenden Gesangbuche abgedruckt ist.“
Aus tiefer Not schrei ich zu dir, BWV 686
In seinem 1739 beim Nürnberger Notenstecher Balthasar Schmidt erschienenen Dritten Theil der Clavier Übung präsentiert Bach den musikalischen Reichtum seines kompositionstechnischen Repertoires: Die hinsichtlich Stil, Form und Satztechnik vielfältige Sammlung mit teilweise hohen Anforderungen an die Spieltechnik ist dabei nicht in erster Linie für den liturgischen Gebrauch bestimmt, sondern als repräsentatives Kunstwerk zur Darstellung des hohen kompositorischen und spieltechnischen Niveaus ihres Schöpfers. Die nach inhaltlichen Gesichtspunkten zusammengestellten Choralbearbeitungen stellten dabei wohl Bachs Beitrag zum Leipziger Reformationsjubiläum 1739 dar – der protestantische Glauben wurde nämlich zu Pfingsten 1539 als Religion im Herzogtum Sachsen eingeführt.
Johann Sebastian Bach (1685–1750): Aus tiefer Not schrei ich zu dir (à 6 in Organo pleno con Pedale doppio), BWV 686 | Rudigierorgel: Dommusikassistent Gerhard Raab
Neun Choralbearbeitungen von Gesängen der lutherischen Messe (Kyrie und Gloria, BWV 669–677), paarweise auftretende Choralbearbeitungen zu den sechs Liedern von Luthers Kleinem Katechismus (Die Zehn Gebote, Der Glaube, Das Vater Unser, Das Sakrament der heiligen Taufe, Vom Amt der Schlüssel und der Beichte, Das Sakrament des Altars oder das Heilige Abendmahl, BWV 678–689) sowie die vier auf keinem Cantus firmus basierenden Duette (BWV 802–805) werden von Präludium und Fuge Es-Dur (BWV 552) umrahmt. Allen großen Choralbearbeitungen stellt Bach darin einen knappen, manualiter zu spielenden Alternativsatz zur Seite, so auch bei der zum Auszug von Dommusikassistent Gerhard Raab musizierten Choralbearbeitung von Aus tiefer Not schrei ich zu dir (à 6 in Organo pleno con Pedale doppio), BWV 686, die sich mit ihrer Sechsstimmigkeit gegenüber der bescheidenen kleinen Fassung (BWV 687) wahrhaft mächtig präsentiert, was die Feiergemeinde im Mariendom mit Applaus belohnte.
Stefanie Petelin
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