Nordwind!
Norddeutsche Orgelmusik von Georg Böhm (1661–1733), Nicolaus Bruhns (1665–1697), Vincent Lübeck (1654–1740) und Heinrich Scheidemann (um 1596–1663) standen am Programm der ORGEL.LITURGIE im Mariendom Linz von Dommusikassistent Gerhard Raab am 19. November 2023. Mit der Gemeinde feierten Dompfarrer Maximilian Strasser und Diakon Alexander Niederwimmer.
Vincent Lübeck – ein „genug=berühmte[r] Mann“
Der 1654 in Padingbüttel an der Wurster Nordseeküste geborene Vincent Lübeck erhielt seine musikalische Ausbildung bei seinem Stiefvater Caspar Förckelrath, dem Organisten der Marienkirche im damals dänischen Flensburg. 1674 wurde der junge Lübeck Organist an St. Cosmae et Damiani in Stade, wo Berendt Hus (um 1630–1676) und sein Neffe und Geselle Arp Schnitger (1648–1719) gerade eine dreimanualige Orgel erbaut hatten, die heute als eine der bedeutendsten Barockorgeln Norddeutschlands gilt. Insofern verwundert es nicht, dass Lübeck eine fachlich wie persönlich sehr enge Verbindung zu Schnitger entwickelte und diesen vielfach weiterempfahl. Durch Lübecks große Reputation als Organist, Komponist, Lehrer und Orgelsachverständiger folgte 1702 ein Wechsel nach St. Nikolai in Hamburg. Für diese Kirche hatte Schnitger 1687 mit 67 Registern auf vier Manualen und Pedal die damals wohl größte Orgel der Welt (diese ist leider dem Hamburger Brand von 1842 zum Opfer gefallen) gebaut, die neben der Orgel in St. Jacobi (1693) von Lübeck in seiner Funktion als Orgelsachverständiger gemeinsam mit Christian Flor (1626–1697) und Andreas Kneller (1649–1724) abgenommen wurde. Das Amt als Organist an St. Nikolai hatte Lübeck bis zu seinem Tod inne, in seinen letzten Lebensjahren unterstützte ihn dabei bereits sein namensgleicher Sohn Vincent (1684–1755), der auch die Nachfolge seines Vaters antrat.
Lübeck spielte eine bedeutende Rolle in der norddeutschen Orgelkultur des 17. und 18. Jahrhunderts. So hält auch Johann Mattheson (1681–1764) im Jahr 1721 in Friedrich Erhardt Niedts Musicalischer Handleitung Anderer Theil über die Schnitger-Orgel in St. Nikolai und ihren Organisten fest: „Diese ungemeine Orgel ist Anno 1686 von Arp Schnittker verfertiget und hat auch einen ungemeinen Organisten. Was soll man aber von einem genug=berühmten Mann viel Rühmens machen; Ich darff nur Vincent Lübeck nennen, so ist der ganze Panegyricus fertig.“
Leider sind nur wenige Orgel- und Cembalowerke sowie Kantaten aus der Feder von Vincent Lübeck erhalten; es existieren keine Autographe von Lübecks Werken für Tasteninstrumente, ein wesentlicher Teil seiner freien Orgelwerke liegt lediglich in Abschriften – alle als Unika, es gibt keine Doppelüberlieferung gleicher Stücke in verschiedenen Handschriften – aus seinem Schülerkreis vor.
Vincent Lübeck (1654–1740): Praeambulum ex F, LübWV 8 | Rudigierorgel: Dommusikassistent Gerhard Raab
In der ORGEL.LITURGIE unter dem Motto Nordwind! musizierte Gerhard Raab zum Einzug Vincent Lübecks Praeambulum ex F, LübWV 8. Überliefert ist dieses Werk in einer Hamburger Quelle – die Abschrift stammt in diesem Fall von Johann Ernst Bernhard Pfeiffer (1703–1774), der ab 1735 als Organist an St. Petri in Hamburg wirkte.
Heinrich Scheidemann – ein „hochberühmte[r] Musicus und Organist“
Heinrich Scheidemann wurde um 1596 als Sohn des Organisten David Scheidemann im holsteinischen Wöhrden (Kreis Dithmarschen) geboren. Vater Scheidemann übernahm 1604 das Organistenamt an St. Katharinen in Hamburg. Die Katharinengemeinde ermöglichte dem jungen Scheidemann schließlich zwischen 1611 und 1614 ein Studium in Amsterdam beim von Mattheson als „hamburgischen Organistenmacher“ bezeichneten Jan Pieterszoon Sweelinck (1561–1621), „in der Hoffnung, daß er ein braver Künstler und dereinst ihr Organist werden sollte“. Tatsächlich übernahm er nach dem Tod des Vaters in den 1620er-Jahren das Amt als Katharinenorganist und behielt dieses bis zu seinem Tod 1663 in Hamburg infolge der Pest.
Scheidemann, von Johann Mattheson in seiner Grundlage einer Ehren-Pforte von 1740 als „freundlich“ und „leutseelig“ beschrieben, galt als zentrale Person des damaligen Hamburger Musiklebens – nicht nur die Katharinengemeinde schätzte sein Wirken, was sich unter anderem in der mehrmaligen Erhöhung seiner Besoldung und der Möglichkeit einer Erweiterung seiner Orgel ausdrückte, sondern auch die vielen mit ihm in freundschaftlicher Verbindung stehenden Organisten, Kantoren und Dichter der Hansestadt wie Matthias Weckmann (um 1616–1674), Thomas Selle (1599–1663) oder Johann Rist (1607–1667). Unter seinen Schülern findet sich neben vielen anderen norddeutschen Organisten Johann Adam Reincken (1643–1722), der später sein Assistent und Nachfolger an St. Katharinen werden sollte. Scheidemann gilt so wohl mit Recht als Mitbegründer der norddeutschen Orgelschule und führender Organist der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Der Komponist, von dem hauptsächlich Orgelmusik erhalten ist, entwickelte den von Sweelinck eingeführten polyphonen Satz weiter und verband diesen auf besondere Weise mit der Idiomatik der norddeutschen Barockorgeln.
In der ORGEL.LITURGIE musizierte Gerhard Raab zur Gabenbereitung Scheidemanns 1657 oder früher entstandene Canzon in F, WV 44, die neben einer Canzon von Girolamo Frescobaldi (1583–1643) und einem Ricercar von Johann Jakob Froberger (1616–1667) in einer von Heinrich Baltzer Wedemann (1646–1718) stammenden Tabulaturquelle überliefert ist und deutlich diesen Vorbildern, mit denen er möglicherweise durch seinen Schüler Weckmann, einen Freund des Frescobaldi-Schülers Froberger, in Berührung kam, verpflichtet ist. Der Schwerpunkt des Komponisten lag zwar auf cantus-firmus-gebundenen Gattungen, doch sind auch Fantasien, Fugen, Toccaten und Canzonen aus verschiedenen Schaffensperioden des Komponisten überliefert. Wie zahlreiche Organisten seiner Generation improvisierte Scheidemann aber sehr virtuos wohl einen Großteil seiner Musik im Rahmen von Gottesdiensten – daher spürt man in seinen Kompositionen auch vielfach den Gestus des Improvisators. Vom Schaffen improvisierender Organisten sind meist maximal Spuren aus Mitschriften ihres Spiels erhalten. Scheidemanns Praxis des liturgischen Orgelspiels spiegelt sich allerdings nur in seinem hauptsächlich Orgelwerke mit hohem technischen Anspruch umfassenden Œuvre wider.
Georg Böhm – „ein origineller, geistreicher Tonsetzer“
Georg Böhm, 1661 in Hohenkirchen bei Ohrdruf als Sohn eines Organisten geboren, verbrachte seine ersten dreißig Lebensjahre in Thüringen. Über seine musikalische Ausbildung lassen sich nur Vermutungen anstellen – möglicherweise war er Schüler von Johann Pachelbel (1653–1706), der 1678 bis 1690 in Erfurt als Organist an der Predigerkirche wirkte und während dieser Zeit eine Vielzahl an Schülern unterrichtete. Um 1690 zog Böhm schließlich nach Hamburg, wo er nicht nur mit der norddeutschen Orgelschule (möglicherweise sogar durch Unterricht bei Johann Adam Reincken) in Berührung kam, sondern auch die Welt der Oper kennenlernte. 1698 wechselte Böhm in Nachfolge von Christian Flor als Organist an die Hauptkirche St. Johannis in Lüneburg und bekleidete das Amt bis zu seinem Tod 1733. Während Böhms Wirken weilte der junge Johann Sebastian Bach (1685–1750) zwischen 1700 und 1702 an der Michaelisschule in Lüneburg und durch einen Fund von Abschriften von Orgelwerken auf Papier mit Böhms Wasserzeichen in der Weimarer Herzog-Anna-Amalia-Bibliothek im Jahr 2006 ist es naheliegend, dass diese der junge Bach für den Orgelunterricht bei Böhm angefertigt hat. Auf einer Kopie von Reinckens Choralfantasie An Wasserflüssen Babylon vermerkte Bach nämlich: „â Dom. Georg: Böhme | descriptum aõ. 1700 | Lunaburgi“. Und in Carl Philipp Emanuel Bachs Nekrolog auf seinen Vater aus dem Jahr 1754 ist schließlich zu lesen: „Von Lüneburg aus reisete er zuweilen nach Hamburg, um den damals berühmten Organisten an der Catharinenkirche Johann Adam Reincken zu hören.“
Georg Böhms Œuvre für Tasteninstrumente ist gekennzeichnet von einem großen Interesse an verschiedenen musikalischen Strömungen und der Fähigkeit, diese in seine eigene Tonsprache einfließen zu lassen. Viele ältere Formen präsentieren sich bei Böhm daher durch seinen persönlichem Ausdruck in neuem Gewand. Generell beherrscht ein stark improvisatorischer Zug Böhms Tonkunst. Der Musikwissenschaftler Philipp Spitta (1841–1894) hält zu ihm fest: „Böhm war ein bedeutender Orgel- und Clavierspieler und ein origineller, geistreicher Tonsetzer.“
Das zur Kommunion von Gerhard Raab musizierte Choralvorspiel Vater unser im Himmelreich, Böhms berühmte Bearbeitung „a 2 Claviers et Pedal“ mit radikal Neuem, entstand wohl in dessen späterer Lüneburger Periode und bricht mit der Bindung an die thüringische Formenwelt der Choralvorspiele und löst sich damit von der didaktisch-dogmatischen Funktion derselben, u. a. durch Mittel wie überreichlich koloriertem cantus firmus, einer äußerst expressiven opernartigen Aria mit vokal gehaltenen Ornamentierungen als Gegensatz zum explizit instrumental gestalteten Begleitsatz.
Georg Böhm (1661–1733): Vater unser im Himmelreich | Rudigierorgel: Dommusikassistent Gerhard Raab
Bei Vater unser im Himmelreich handelt es sich um ein 1538/1539 entstandenes Kirchenlied von Martin Luther als Nachdichtung seiner Erläuterungen zum Vaterunser aus Der Kleine Katechismus (1529), um das Gebet des Herrn in singbarer Form zu vermitteln.
Nicolaus Bruhns – „trefflicher Meister in seiner Profession“
Mit dem Praeludium in e („klein“) aus der Feder von Nicolaus Bruhns zum Auszug beendete Dommusikassistent Gerhard Raab die ORGEL.LITURGIE musikalisch mit einem Nordwind von der „grauen Stadt am Meer“, wie Theodor Storm Husum bezeichnete.
Der Werdegang von Nicolaus Bruhns, 1665 in Schwabstedt in eine norddeutsche Musikerfamilie hineingeboren und 1697 in Husum gestorben, ist nur fragmentarisch überliefert. Schon früh muss Bruhns das Orgelspiel erlernt haben, vermutlich bei seinem Vater Paul. Seine musikalische Ausbildung setzte der junge Bruhns ab 1681 in Lübeck fort, wo er Violine und Viola da Gamba bei seinem als Ratsmusiker wirkenden Onkel Peter lernte und sein Wissen als Organist und Komponist bei Dieterich Buxtehude (um 1637–1707) ausbaute. Anschließend wirkte der Orgel- und Violinvirtuose einige Jahre auf Empfehlung seines Lehrers Buxtehude als Komponist und Violinist am Hof von Kopenhagen. Im Januar 1689 machte sich der Husumer Stadtrat nach dem Tod ihres Organisten an der alten Marienkirche auf die Suche nach Bruhns, um dem schon Reputation erlangten Musiker diese Stelle anzubieten, die er nach einem Probespiel im März 1689 auch nach einstimmigem Beschluss erhielt. Streitigkeiten zwischen den Räten von Husum und Kiel, die Bruhns ebenfalls verpflichten wollten, folgten. Bruhns, der die spektakuläre Fähigkeit besessen haben soll, ein dreistimmiges Stück allein aufzuführen, indem er die Violinpartie spielte, die Bassstimme sang und den basso continuo auf dem Orgelpedal ausführte, blieb bis zu seinem frühen Tod 1697 mit nur 31 Jahren in der reichsten Stadt Nordfrieslands tätig. In seinem Nachruf bedauerte man den frühen Tod „ein[es] solch[] treffliche[n] Meister[s] in seiner Profession“.
Das von Bruhns überlieferte, gesichert von diesem stammende Werk umfasst lediglich vier vollständige Orgelwerke und zwölf Kantaten, sein Kammermusikwerk ist bis heute verschollen. Das in der ORGEL.LITURGIE musizierte Praeludium in e ist nur in einer norddeutschen Quelle (Schmahls Orgeltabulaturen), in der Werke von Buxtehude, Lübeck, Bruhns und Leyding notiert sind, überliefert – und zwar in Buchstabentabulatur. Wie sein Beiname („klein“) bereits verrät, ist die Form weniger umfangreich als beim tonartengleichen Praeludium („groß“): Relativ kompakt präsentiert sich das Stück in symmetrischer Anlage – das Zentrum bildet die einzige Fuge des Werks, die von zwei konzertanten Abschnitten umrahmt wird.
Der dem norddeutschen Orgelstil verpflichtete Bruhns, der mit Johann Joachim Quantz (1697–1773) im Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen (1752) gesprochen neben Reincken und Buxtehude die „schmackhaftesten Instrumentalstücke“ dieser Zeit für Orgel schuf, reizte die Möglichkeiten des sogenannten stylus phantasticus in seinem Orgelschaffen voll aus – so bestechen seine Werke durch Originalität, Affektenreichtum und herben, fast modernen Klang und stellen doch gleichzeitig hohe Anforderungen an Interpretinnen und Interpreten.
Stefanie Petelin
Peggychoucair/pixabay.com/Pixabay License (Sujet) | Diözese Linz/Sebastian Fürlinger (Fotos der ORGEL.LITURGIE)