SOMMERWIND! mit Gerhard Raab
Für das Matineekonzert SOMMERWIND am 3. September 2023 – ein „Heimspiel“, wie Domkurat Josef Keplinger es in seiner Konzerteinladung nannte – hatte Dommusikassistent Gerhard Raab Musik von Henri Mulet (1878–1967), Max Reger (1873–1916) und Louis Vierne (1870–1937) vorbereitet.
Mulets mystisches Glockenspiel!
Mit Henri Mulets Carillon-Sortie eröffnete Gerhard Raab das letzte Matineekonzert des domorgelsommerlinz23. Mulet blieb zeitlebens dem Stil der symphonischen Cavaillé-Coll-Orgel des 19. Jahrhunderts treu und ist so Repräsentant der Kulturperiode des aufstrebenden Paris um die Jahrhundertwende. Leider ist nahezu sein gesamtes kompositorische Schaffen von ihm selbst vernichtet worden oder in Vergessenheit geraten. Sein darum weniger als dreißig Werke umfassendes Œuvre ist in erster Linie auf religiöse Instrumental- und Vokalmusik beschränkt, obwohl er auch Orchesterwerke und Klavierstücke verfasste. Daneben ist Mulet Verfasser der 1922 veröffentlichten Schrift Les Tendances néfastes et antireligieuses de l’orgue moderne (suivi d’une étude sur les mutations et les mécanismes rationnels de cet instrument) (Übersetzung: Die schädlichen und antreligiösen Tendenzen der modernen Orgel), die auf zwei 1921 gehaltenen Vorträgen Mulets beim Allgemeinen Kongress für Kirchenmusik in Straßburg basiert und sich gegen den modernen Orgelbau richtet.
Als Sohn des Pianisten und Chorleiters Gabriel Léon Mulet und der Pianistin, Sängerin und Harmonium spielenden Blanche Victoire Patie Mulet, beide in der noch in Bau befindlichen Basilika Sacré-Cœur tätig, kam der 1878 in Paris geborene Mulet schon früh mit dem Musikleben der französischen Metropole in Berührung. Auf ersten Unterricht bei seinen Eltern in Gesang, Klavier und Harmonium folgte ab 1889 ein Studium mit Hauptfach Cello in der Klasse von Jules Delsart sowie die Einschreibung in die Orgelklasse von Charles-Marie Widor (und seinem Assistenten Louis Vierne) und die Improvisationsklasse von Alexandre Guilmant am Conservatoire de Paris, wo er mehrere Preise (Zwei erste Preise in Cello (1893) und Harmonielehre (1896) sowie ein zweiter Preis in Orgel und Improvisation (1897)) gewann. Am Beginn seiner beruflichen Laufbahn war Mulet ab 1897 in mehreren Pariser Kirchen – Saint-Pierre de Montrouge, Sainte-Marie des Batignolles, Saint-Eustache und Saint-Roch – als Organist tätig. Nach seiner Heirat mit Isabelle Marie Board Rochereau (1878–1977) 1910 fungierte er von 1911 bis 1937 als Organist der Kirche Saint-Philippe du Roule – von 1911 bis 1922 an der Chororgel, ab 1922 als Titularorganist der Hauptorgel. 1913 bis 1934 lehrte Mulet an der École de musique classique et religieuse von Niedermeyer, 1924 bis 1931 an der Schola Cantorum und zwischen 1932 und 1937 schließlich an der neu gegründeten Ecole César Franck. 1937 vernichtete Mulet einen Großteil seiner Manuskripte und zog sich ganz aus dem ihm mehr und mehr verhassten Paris zurück, aus dem er bereits 1914 ins etwa 35 Kilometer entfernte Triel-sur-Seine gezogen war. Bis 1958 wirkte Mulet als Organist an der Merklin-Orgel in der Pfarrkirche Saint-Michel in Draguignan an der Côte d'Azur, wo er 1967 zurückgezogen, verarmt und gesundheitlich angeschlagen in einem Kloster starb. Charles Tournemire beschrieb Mulet in einem Artikel in Le Monde Musical vom 30. April 1930 als „[…] étrange et grand artiste, épris d'idéal mystique, improvisateur calme et religieux“ („eigentümlicher und großer Künstler, verliebt in mystische Ideale, ein ruhiger und religiöser Improvisator“) und „penseur mystérieux“ („geheimnisvoller Denker“).
Mulets improvisatorisch anmutendes Carillon-Sortie präsentiert sich als faszinierendes, von Widors brillantem Stil inspiriertes Sortie, also ein den Gottesdienst beschließendes Orgelsolo in Art einer Toccata, die ein Carillon nachahmt. Gewidmet ist die Nummer 8 der Sammlung Parnasse des Organistes du XXe Siècle / Troisième Série von beim Concours international von 1911 ausgezeichneten Stücken zum Gebrauch im Gottesdienst dem an St. Eustache tätigen Joseph Bonnet („A mon ami Joseph Bonnet organiste du G.O. de St. Eustache à Paris.“), der 1906 im Bewerbungsverfahren um die Nachfolge von Henri Dallier (1849–1934) an der Hauptorgel von Saint-Eustache gegenüber Émile Aviné, Joseph Boulnois und Henri Mulet den Zuschlag erhallten hatte. Mulets Carillon-Sortie spiegelt letztlich auch ein wenig seine Sicht auf die Orgel wider: „L’Orchestre est un tableau, l’Orgue est un vitrail. Ses timbres d’un calme imposant et saisissant baignent l’atmosphère de nos cathédrales, de même que les lumières vives et cependant si douces de nos vitraux font descendre sur les fidèles le recueillement … Comme le vitrail, l'Orgue a ses couleurs. On peut dire si l'on veut que les flûtes sont bleues, les anches rouges, les pleins jeux jaunes, les cornets violets, les gambes vertes.“ („Das Orchester ist ein Gemälde, die Orgel ist ein Kirchenfenster. Ihre Klangfarben von imposanter und ergreifender Ruhe durchfluten die Räume unserer Kathedralen, so wie die lebhaften und doch sanften Lichtstrahlen unserer Kirchenfenster die Besinnung auf die Gläubigen herabsenken. Wie das Kirchenfenster hat auch die Orgel ihre Farben. Man könnte sagen, die Flöten sind blau, die Zungen rot, das Plein Jeu gelb, das Kornett violett und die Gamben grün.“)
Viernes poetische Meditation!
Joseph Bonnet, Widmungsträger von Mulets Carillon-Sortie, beschreibt den Schöpfer des anschließend von Gerhard Raab musizierten Werks in einem Artikel vom Juni 1937 wie folgt: „À tous ses malheurs, il opposa une force d’âme et une énergie invincibles.“ („All seinem Unglück setzte er unbesiegbare Seelenstärke und Energie entgegen.“) Gemeint ist damit Louis Vierne. Obwohl von Geburt an nahezu blind, war der 1870 in Poitiers geborene Vierne ein unvergleichlicher Virtuose und Improvisator. Nachdem er seinen Lehrer Charles-Marie Widor (1844–1937) ab 1892 an der großen Cavaillé-Coll-Orgel der Pariser Kirche Saint-Sulpice vertreten hatte, wurde er 1900 Organist an der Kathedrale Notre-Dame de Paris und wirkte dort bis zu seinem Tod – er starb am 2. Juni 1937 während eines Konzertes an seiner geliebten Orgel. Vierne hinterließ ein umfangreiches Œuvre, allerdings nur wenige Werke für Orgel. Allerdings sind es gerade diese Orgelwerke, die ihn als Komponisten bekannt machten. Louis Vierne entwickelte eine völlig eigene Ästhetik, inspiriert von seinem sehr sensiblen Wesen und seiner romantischen Natur. Angst und Qualen bestimmten sein Lebensgefühl und spiegeln sich so auch in seiner Musik wider. Viernes Musik ist durch ihren leidenschaftlichen Ton romantisch wie klassisch durch ihre klare Ordnung.
In den Fokus rückte Dommusikassistent Gerhard Raab bei seinem Matineekonzert SOMMERWIND! Louis Vierne nicht als brillanten Komponisten, sondern als genialen Improvisator. Die Firma Odéon hatte Ende der 1920er-Jahre einige Aufnahmen von Viernes improvisatorischem Können an der Cavaillé-Coll-Orgel von Notre-Dame de Paris gemacht. Drei der vier aufgenommenen Werke fanden den Weg auf die 1929/1930 publizierte Schallplatte als Trois Improvisations, die von Viernes Schüler Maurice Duruflé 1954 aus Verehrung transkribiert und rekonstruiert wurden. Duruflé schrieb über die Beziehung zwischen Vierne und Notre-Dame, die in den Improvisationen auch hörbar wird: „Vierne s’était tellement identifié à ce cadre grandiose, il s’y était totalement incorporé, qu’il était devenu l’âme de la cathédrale.“ („Vierne hatte sich so sehr mit dieser beeindruckenden Umgebung identifiziert, er hatte sich völlig in sie eingefügt, dass er zur Seele der Kathedrale geworden war.“) Die zweite der drei Improvisationen ist die poetisch-expressive Méditation (vom 17. November 1928), die Gerhard Raab an der Rudigierorgel musizierte. In ihr zeigt Vierne sein großes Gefühl für Poesie und für expressive Lyrik. Die liedhafte Thematik wird in langen Phrasen entwickelt und von einer fließenden Triolenbewegung begleitet, wie diese historische Originalaufnahme zeigt:
Regers oft gespieltes Werkchen!
Vor dem Jubilar Max Reger, dessen 150. Geburtstag 2023 gefeiert wurde und wird, verneigte sich Gerhard Raab in seinem Matineekonzert SOMMERWIND! musikalisch. Bei Introduction und Passacaglia d-Moll, WoO IV/6, handelt es sich um Max Regers Benefizbeitrag zu einem Album mit 36 kleineren Orgelwerken verschiedener Komponisten wie Alexandre Guilmant (1837–1911), Josef Gabriel Rheinberger (1839–1901) oder Charles-Marie Widor, das 1899 zur Finanzierung eines Orgelneubaus in Schönberg im Taunus von dem dort wirkenden Organist Ludwig Sauer (1861–1940) initiiert und unter dem Titel Orgel-Album. Zu Gunsten des Orgelneubaues zu Schönberg im Taunus bei Breitkopf & Härtel publiziert wurde. Erstmals kombinierte Reger in seinem im Album als Nummer 20 gelisteten „Werkchen“, wie er das Stück bezeichnete, die beiden Satztypen Introduction und Passacaglia. Aufgrund der – im Vergleich zu anderen Reger-Werken – leichteren Ausführbarkeit erlangte das Werk bald große Bekanntheit – so zählt es heute zu den meistgespielten Orgelwerken des „Accordarbeiters“. Regers Werke ohne Opus (WoO) umfassen in erster Linie kleinformatige Stücke, die in Zeitschriften oder Sammelbänden abgedruckt wurden, die aber von großer Qualität sind, auch wenn Reger bewusst auf eine Zählung verzichtete.
Reger übermittelte seine Zustimmung zu Sauers Bitte um ein Stück für das Album am 8. Oktober 1899 in einem Brief aus Weiden und hielt darin recht selbstbewusst fest: „Selbstverständlich erfülle ich Ihre Bitte mit größtem Vergnügen und bin also gerne bereit, Ihnen eine Originalkomposition für Orgel für das Orgelalbum einzusenden unter Verzicht auf jegliches Honorar, möchte aber vorher um gütige Nachricht bitten, wie lang (resp. wieviele Druckseiten) meine Komposition sein dürfte. Würden Sie so gegen 8–10 Druckseiten vielleicht für mich übrighaben? Wenn nicht, so bin ich ja auch mit weniger zufrieden, aber je mehr Raum, desto lieber ist es mir, da ich die Absicht habe, Ihnen ein ausgedehntes Präludium samt Fuge zu schreiben.“ Nach der am 13. Oktober 1899 erteilten Zustimmung Sauers erhielt dieser schon am 19. Oktober 1899 Regers Manuskript für das Album mit folgendem Kommentar: „Ich habe Ihnen in Anbetracht dessen, dass Ihnen doch voraussichtlich meistens Fugen, Fughetten etc. für das Album gesandt werden, eine Introduktion und Passacaglia geschrieben. Das Werkchen wird 7–8 Druckseiten geben, ich habe es absichtlich nicht schwer gemacht, um nicht den Vorwurf auf mich zu laden, daß mein Beitrag zu Ihrem Album durch zu große Schwierigkeit den öfteren Gebrauch verhinderte. So wie die Passacaglia ist, muß sie jeder einigermaßen geübte Organist vom Blatt spielen können.“ Mehr Sorgfalt und Leidenschaft (als nur ein Vom-Blatt-Spiel) ließ der sehr geübte Organist Gerhard Raab walten – sonst hätte er das domorgelsommerlinz-Publikum wohl nicht so sehr mit seiner Interpretation des Regerschen „Werkchens“ (und der anderen beiden Stücke aus dem französischen Repertoire) begeistert!
Stefanie Petelin
Brazil Topno/unsplash.com/Unsplash License (Sujet) / Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin (Konzertfotos)