HYGGELIG! mit Henrik Skærbæk Jespersen
Die Rudigierorgel von Marcussen & Søn und der neogotische Kirchenraum des Mariendoms Linz weckten in Henrik Skærbæk Jespersen sicher sofort ein Gefühl von Vertrautheit, ist dieser doch selbst Domorganist an der Haderslev Domkirke, der wohl schönsten gotischen Kirche Dänemarks, die auch Instrumente der Orgelbauwerkstatt aus dem unweit Haderslev gelegenen Aabenraa beherbergt. Damit war bereits die Basis gelegt für einen HYGGELIGen Konzertabend im Mariendom am 31. August 2023, meint der Begriff Hygge doch Gemütlichkeit, Geborgenheit und Heimeligkeit als typisch dänisches Lebensprinzip. Auch Kritiker Michael Wruss zeigte sich in seiner Kritik zum domorgelsommerlinz-Konzert begeistert und resümierte: „Ein großer Abend an einem großen Instrument mit einem wunderbar vielseitigen Programm.“ (Oberösterreichische Nachrichten, 2. September 2023) Dieses wunderbar vielseitige Programm umfasste Werke von Johann Sebastian Bach (1685–1750), Marcel Dupré (1886–1971), Johann Peter Emilius Hartmann (1805–1900), Joseph Jongen (1873–1953), Christian Præstholm (*1972) und Louis Vierne (1870–1937).
Meisterhaft!
Eröffnet wurde Skærbæk Jespersens Konzertabend mit Johann Sebastian Bachs Pièce d’orgue, das Zeugnis von der Beschäftigung des Tondichters mit der Tradition französischer Orgelmusik ablegt. Das aus Bachs Weimarer Zeit stammende Werk zählt zu den bekanntesten und meistgespielten Orgelwerken dieses Giganten der Musikgeschichte: Die aus drei stark kontrastierenden, aber in enger Beziehung zueinander stehenden Teilen bestehende Komposition besticht durch originelle Frische, zielstrebigen Duktus und eine meisterhafte Gesamtdisposition. Überliefert ist das Werk in zwei Fassungen: Bei der Frühfassung handelt es sich um eine Abschrift von Johann Gottfried Walther aus dem Jahr 1712 (Weimar), die zweite Fassung entstand in den späten 1720er-Jahren in Leipzig. Walther, ein entfernter Verwandter Bachs, ist es auch, der in seinem 1732 erschienenen Musicalischen Lexikon eine Definition des in der deutschen Barockmusik selten verwendeten Begriffs Pièce publizierte: „Pièce […] wird hauptsächlich von Instrumentalsachen gebraucht, deren etliche als Teile ein ganzes Stück zusammen konstituieren.“
Meditativ!
Aus den Achtzehn Chorälen von verschiedener Art musizierte Skærbæk Jespersen Bachs leise, fast meditative Choralbearbeitung von An Wasserflüssen Babylon, einer recht textnahen Paraphrase von Psalm 137. Die weit verbreitete und beliebte Melodie diente als Basis für eine Vielzahl von Orgelstücken, wobei Johann Adam Reinckens Choralfantasie wirkungsgeschichtlich wohl die bedeutendste darstellt, die auch auf den jungen Bach großen Eindruck machte. Viele Jahre später sorgte dieser Choral für folgende Begebenheit, die durch den Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel überliefert ist: „Während dieser Zeit, ungefehr im Jahr 1722, that er eine Reise nach Hamburg, und ließ sich daselbst, vor dem Magistrate, und vielen andern Vornehmen der Stadt, auf der schönen Catharinenkirchen Orgel, mit allgemeiner Verwunderung mehr als 2 Stunden lang, hören. Der alte Organist an dieser Kirche, Johann Adam Reinken, der damals bey nahe hundert Jahre alt war, hörete ihm mit besondern Vergnügen zu, und machte ihm, absonderlich über den Choral: An Wasserflüssen Babylon, welchen unser Bach, auf Verlangen der Anwesenden, aus dem Stegreife, sehr weitläuftig, fast eine halbe Stunde lang, auf verschiedene Art, so wie es ehedem die braven unter den Hamburgischen Organisten in den Sonnabends Vespern gewohnt gewesen waren, ausführete, folgendes Compliment: Ich dachte, diese Kunst wäre gestorben, ich sehe aber, daß sie in Ihnen noch lebet.“ Früher glaubte die Forschung an einen Zusammenhang des Besuchs mit der Entstehung von Bachs eigener Choralbearbeitung, heute wird das Werk als Revision seines Weimarer Orgelchorals betrachtet. Die auch unter dem Titel Leipziger Choräle bekannte Sammlung der Choralbearbeitungen für Orgel mit zwei Manualen und Pedal stellte Bach in seinen letzten Lebensjahren für eine Drucklegung zusammen – sie besteht daher aus in ganz unterschiedlichen Lebensabschnitten entstandenen Sätzen, deren Abschrift Bach für zahlreiche Detailverbesserungen nutzte.
Nordisch!
Johann Peter Emilius Hartmann zählt heute zu den größten Komponisten Dänemarks – sein Werk umfasst etwa 500 Werke, die in einem Zeitraum von 76 Jahren entstanden sind. Der Komponist mit Hang zum nordischen Tonfall spielte eine zentrale Rolle im dänischen Musik- und Kulturleben des 19. Jahrhunderts und prägte die nachfolgenden Komponistengenerationen, obwohl er international nie so große Bekanntheit erlangte wie sein Sohn Emil Hartmann oder sein Schwiegersohn Niels Wilhelm Gade, mit dem er 1867 das Københavns Musikkonservatorium gründete. Hartmann verfasste die Sätze Allegro marcato, Andantino und Allegro poco agitato seiner Sonate für die Orgel zwischen 3. Februar und 4. August 1855. Vermutlich präsentierte dieser das Werk dem deutschen Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow bei dessen Kopenhagen-Besuch im selben Jahr. Denn als Hartmann das Werk dreißig Jahre später im Wilhelm Hansen Musikforlag publizierte, gab er als Widmung an: „Dem Freiherrn Dr. Hans v. Bülow gewidmet“. Durch die lange Zeitspanne bis zur Herausgabe hatte Hartmann die Sonate allerdings nicht nur einer Revision unterzogen, sondern auch das Passions-Intermezzo ergänzt. Hans von Bülow nahm die Widmung Hartmanns, den er als „Princeps der skandinavischen Tonkünstler“ betrachtete, wie er in einem Brief vom 15. Dezember 1884 schrieb, mit Freude an, wobei er das Werk als „eines Ihrer schönsten Meisterwerke“ bezeichnete.
Johann Peter Emilius Hartmann (1805–1900): Sonate für die Orgel, HartW 133: 2. Andantino | Rudigierorgel: Henrik Skærbæk Jespersen
Festlich!
Mit der Siseby-suite des dänischen Komponisten Christian Præstholm erklang ein Werk, das Henrik Skærbæk Jespersen selbst im Jahr 2019 zum 200. Geburtstag der Siseby-Orgel in Auftrag gegeben hatte. Das Instrument war 1819/20 von Jürgen Marcussen für die Kirche im heute schleswig-holsteinischen Sieseby (dänisch: Siseby) gebaut worden, wo es fast 150 Jahre in Gebrauch war, bevor Marcussen & Søn 1969 dort eine neue Orgel baute und die Siseby-Orgel 1985/86 renoviert und ins Seitenschiff der Haderslev Domkirke transferiert wurde. Die Siseby-Orgel gilt als älteste erhaltene dänische Orgel ihrer Größe und wird von der Firma Marcussen & Søn als Opus 1 gelistet. Die für 15. Mai 2020 geplante Uraufführung der Siseby-suite in der Haderslev Domkirke musste pandemiebedingt verschoben werden und fand am 30. Juni 2020 in der Sct. Mortens Kirke in Randers, wo Præstholm als Organist wirkt, statt. Erstmals an der Siseby-Orgel erklang die Komposition am 30. September 2020. In seinem HYGGELIGen Konzert präsentierte Skærbæk Jespersen die vier Sätze Sarabande, Gavotte, Menuet und Gigue. In letzterer ertönt die Hymne Når du vil / When You Will / Wenn du willst von Holger Lissner und Christian Præstholm, die 2015 unter den Gewinnern des Europäischen Liedwettbewerbs der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa zum 500. Jahrestag des Beginns der Reformation zu finden war. In Verbindung mit den Zeilen einer bekannten Melodie aus der Reformationszeit und zwei anderen für die Siseby-Orgel komponierten Werken von Jesper Madsen und Peter Møller nimmt Praestholm Bezug auf Haderslev als eine der wichtigsten dänischen Städte der Reformation, das daher auch als „Wittenberg des Nordens“ bezeichnet wird.
Scherzhaft!
Joseph Jongen, 1873 in Lüttich geboren, trat bereits mit sieben Jahren in das Conservatoire Royal de Liège ein, wo er seine musikalische Ausbildung in Komposition, Orgel und Klavier erhielt. 1898 bis 1904 versah er zusammen mit seinem Bruder Léon den Dienst als Organist an der Lütticher Kirche Saint-Jacques. Der belgische Prix de Rome 1897 ermöglichte ihm eine mehrjährige Reise durch Deutschland, Frankreich und Italien, auf der er die Musik von Johannes Brahms kennenlernte, Kompositionsstunden bei Richard Strauss nahm und mit Gabriel Fauré und Vincent d’Indy Bekanntschaft machte. Jongen ließ sich schließlich 1905 in Brüssel nieder, lehrte am Konservatorium in Lüttich, wo er 1911 zum Professor für Harmonielehre ernannt wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg, den Jongen in Großbritannien verbrachte, wo er das Quatuor belge de Londres gründete und auch regelmäßig Klavier- und Orgelkonzerte gab, wurde er 1920 zum Professor am Conservatoire royal de Bruxelles ernannt. Von 1925 bis zu seinem Pensionsantritt 1939 fungierte er als dessen Direktor. Jongen starb 1953 in seinem Sommerhaus in Sart-lez-Spa.
Jongens Deux Pièces entstanden im September 1938. Gewidmet sind sie Madame Valérie Chesneau-Barberis, einer Freundin und Privatschülerin Jongens. Der Anlass für die Komposition ist nicht bekannt, es ist jedoch aufgrund eines Briefwechsels von 1939 anzunehmen, dass es sich um ein Auftragswerk der Oxford University Press handelt. Das Thema des von Skærbæk Jespersen musizierten Scherzetto ist dabei von einem Thema inspiriert, das Jongen anlässlich seiner Wahl zum Ehrenmitglied der Organ Music Society of London im November 1935 an deren Generalsekretär Felix Aprahamian sandte. Es sollte bei einem Konzert der Gesellschaft für ein improvisiertes Divertissement-Scherzo von André Marchal dienen.
Ausdrucksstark!
Obwohl von Geburt an nahezu blind, war der 1870 in Poitiers geborene Louis Vierne ein unvergleichlicher Virtuose und Improvisator. 1900 wurde der außergewöhnliche Musiker Titularorganist an Notre-Dame de Paris – dort wirkte er bis zu seinem Tod 1937 während eines Konzertes an seiner geliebten Orgel. Nach César Franck und Charles-Marie Widor hatte Vierne die symphonische Orgeltradition Frankreichs ins 20. Jahrhundert und zu einem Höhepunkt geführt. Seine sechs Orgelsymphonien – entstanden zwischen 1899 und 1930, komponiert in aufsteigenden Tonarten – sind von der Architektur Notre-Dames und den Cavaillé-Coll-Orgeln mit ihren orchestralen Klangmöglichkeiten inspiriert. Die oft als sein Meisterwerk betrachtete Symphonie No. 3 entstand in einer der dunkelsten Zeiten im Leben des Komponisten: Innerhalb weniger Tage starben im März 1911 seine Mutter und sein Mentor Alexandre Guilmant. Eine zusätzliche Enttäuschung für Vierne war, dass man Eugène Gigout zum Nachfolger Guilmants berief – und nicht ihn. Vierne finalisierte die Symphonie im Sommer 1911 in der Villa Julia-Marie, dem Sommerhaus der Familie Dupré in Saint Valery-en-Caux in der Normandie. Gewidmet ist das Werk seinem Schüler und Freund Marcel Dupré, der 1912 auch die Uraufführung im Pariser Salle Gaveau spielte. Das ausdrucksstarke Adagio – von Vierne als „Lied ohne Worte“ beschrieben – ist auf einem in den ersten Takten aufgestellten, noblen Thema aufgebaut, das sich erweitert und in neuen Figurationen entwickelt. In dieser Meditation zeigt sich Vierne als stark von der klanglichen Ästhetik César Francks und Richard Wagners beeinflusst.
Unspielbar!
Mit Duprés Prélude et Fugue en si majeur interpretierte Skærbæk Jespersen das Werk einer der prägendsten Organistenpersönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts. Die Trois Préludes et Fugues aus Marcel Duprés früher Schaffensperiode entstanden während dessen selbstverordneter Vorbereitung auf den Grand Prix de Rome 1914. Schüler und Freunde, die diese bereits 1911/12 hörten, schlossen eine Publikation aufgrund des immensen Schwierigkeitsgrads zunächst aus. So verwundert es nicht, dass Dupré selbst 1917 seinen Zyklus im Salle Gaveau zur Aufführung brachte und das Publikum durch die bemerkenswerte kontrapunktische Qualität der Komposition und die unvergleichliche Virtuosität der Interpretation in Staunen versetzte. Selbst Charles-Marie Widor, dessen Assistent Dupré an Saint-Sulpice zum Zeitpunkt der Komposition war, hatte das erste und dritte Stück für „unspielbar“ gehalten. In der 1920 bei Leduc publizierten Fassung ist die Komposition dem Andenken an René Vierne gewidmet. Auf das dreiteilige virtuose Prélude folgt eine Fugue, in der sich Dupré einmal mehr als Meister der Kontrapunktik erweist. Graham Steeds Urteil fasst es daher perfekt zusammen: „This is a dangerous piece to play in concert.“ Eine Gefahr, die der dänische Domorganist mühelos zu meistern vermochte, so betonte auch Kritiker Michael Wruss: „Henrik Skærbæk Jespersen verknüpfte dabei seine unerschütterliche technische Virtuosität mit großem Klangempfinden und leidenschaftlicher Darstellungskunst, sodass diese Musik nicht bloß als Finger- und Pedalakrobatik zu erleben war, sondern als geniales Gesamtkunstwerk.“ (Oberösterreichische Nachrichten, 2. September 2023)
Gleichzeitig ermunterte Skærbæk Jespersen zum Konzertfinale durch seine Musik, das Gute des Lebens nach dänischer Lebensart mit lieben Menschen zu genießen – ganz HYGGELIG! Dementsprechend begeistert war der Applaus des domorgelsommerlinz23-Publikums – der Dommusikverein Linz schließt sich dem damit verbundenen Ausruf an: „Vi glæder os til at se dig igen!“
Stefanie Petelin
Mark König/unsplash.com/Unsplash License (Sujet) / Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin (Konzertfotos)