FIREWORKS! mit Tobias Takacs
Bei seinem Debüt an der Rudigierorgel präsentierte der junge Multiinstrumentalist Tobias Takacs am 20. August 2023 im Matineekonzert FIREWORKS! Musik von Jehan Alain (1911–1940), Johann Sebastian Bach (1685–1750), Léon Boellmann (1862–1897), Max Reger (1873–1916) und Paul Spicer (*1952).
Betend!
Der Weyregger eröffnete sein Matineekonzert mit Jehan Alains berühmtem Orgelwerk Litanies, JA 119 (AWV 100), das eindrücklich beweist, dass die Orgel nicht nur singen, klagen oder jubeln, sondern auch beten kann.
Jehan Alain wurde 1911 als ältester Sohn des Komponisten, Organisten und Orgelbauers Albert Alain geboren und kam so schon früh in Berührung mit der Musik. Mit nur 29 Jahren starb der bereits mit mehreren musikalischen Preisen dekorierte Hoffnungsträger des Conservatoire de Paris im Juni 1940 in Le Petit Puy/Saumur nur wenige Stunden vor dem Inkrafttreten des Waffenstillstands zwischen Frankreich und Deutschland durch die Kugel eines deutschen Soldaten, nachdem er sich freiwillig für einen Einsatz als Motorradkurier gemeldet hatte. Ein tragisch kurzes Leben, ein innovatives musikalisches Werk, mit dem sich der Franzose auf ewig ein Denkmal gesetzt hat.
Entstanden sind die von Tobias Takacs interpretierten Litanies im Sommer 1937. Zur Zeit der Komposition befand sich Alain in einer tiefen Krise, gebeutelt von zahlreichen Schicksalsschlägen – seine Frau hatte eine Fehlgeburt erlitten, er selbst litt unter Angstträumen. Drei Wochen nach Vollendung der Komposition hat er dem Madame Virginie Schildge-Bianchini gewidmeten Werk folgende Gedanken angesichts des Todes seiner Schwester Marie-Odile mit nur 23 Jahren bei einem Bergunfall vorangestellt: „Quand l’âme chrétienne ne trouve plus de mots nouveaux dans la détresse pour implorer la miséricorde de Dieu, elle répète sans cesse la même invocation avec une foi véhémente. La raison atteint sa limite. Seule la foi poursuit son ascension.“ (Übersetzung: „Wenn die christliche Seele in ihrer Verzweiflung keine Worte mehr findet, um die Barmherzigkeit Gottes zu erflehen, so wiederholt sie in ungestümem Glauben unaufhörlich das gleiche Bittgebet. Die Vernunft erreicht ihre Grenze. Der Glaube, ganz allein, setzt seinen Aufstieg weiter fort.“) Das sich dramatisch steigernde Stück, das mit „Argentière, St Germain en Laye, 15. August 1937“ signiert ist und am 17. Februar 1938 von Alain an der Orgel von La Trinité in Paris uraufgeführt wurde, führt nahezu in rauschhafte Ekstase – Jehan Alain vertraute seinem Freund Bernard Gavoty (1908–1981) dazu an: „Das Gebet ist keine Klage, sondern ein gewaltiger Orkan, der alles, was sich ihm in den Weg stellt, hinwegfegt. Es ist auch eine Obsession: Man muss es den Menschen um die Ohren hauen... und dem lieben Gott! Wenn man am Ende nicht völlig erschöpft ist, hat man das Stück weder richtig verstanden, noch so gespielt, wie ich es mir vorstelle.“ (Original: „La prière, ce n'est pas une plainte, c'est une bourrasque irrésistible qui renverse tout sur son passage. C'est aussi une obsession: il faut en mettre plein les oreilles des hommes ... et du Bon Dieu! Si, à la fin, tu ne te sens pas fourbu, c'est que tu n'auras ni compris ni joué comme je le veux.“) Gavoty urteilte später: „Heute ist das Werk zu Recht weltberühmt, denn es gehört zu den genialsten Werken, die je für die Orgel geschrieben wurden.“ (Original: „Aujourd’hui, l’œuvre est célèbre dans le monde entier, à juste titre, car elle compte parmi les plus géniales qui aient été écrites pour l’orgue.“) Auch Alains Schwester Marie-Claire bemerkte zu Litanies: „Jehan war auf der Suche nach einer ‚magischen‘ Musik.“ (Original: „Jehan recherchait une musique ‚magique‘.“) Und die scheint er gefunden zu haben, übt das nur rund vier Minuten dauernde Stück bis heute eine magische Wirkung auf die Interpretierenden wie die Zuhörenden aus.
Fühlend!
Johann Sebastian Bachs sechs Triosonaten für Orgel (BWV 525 bis BWV 530) markieren den Beginn einer Sammelhandschrift mit Orgelmusik, der Bach später noch die Achtzehn Choräle von verschiedener Art sowie die Kanonischen Veränderungen über „Vom Himmel hoch“ hinzufügte. Entstanden sind die Triosonaten 1727 bis 1732 laut Johann Nikolaus Forkel (1749–1818) für den ältesten Bach-Sohn Wilhelm Friedemann (1710–1784), „welcher sich damit zu dem großen Orgelspieler vorbereiten mußte, der er nachher geworden ist“. Möglicherweise ist dies der Grund dafür, dass Bach dem italienischen Stil hier und da galante Elemente hinzufügt, da sein Sohn Wilhelm Friedemann Bach offenbar ein Bewunderer derselben war. Mit den Triosonaten führte Bach eine neue Gattung an Orgelwerken ein: In der Kammermusik war diese Art der Sonate bereits lange bekannt, aber dass die drei Stimmen von einem Instrument übernommen wurden, war noch ein Novum.
Tobias Takacs musizierte in seinen FIREWORKS! den Mittelsatz (Adagio e dolce) der Sonate III d-Moll, BWV 527. Das Adagio e dolce folgt ganz dem empfindsamen Stil und präsentiert sich als elegantes Flötenduett – angelegt im 6/8-Takt in der Tonart F-Dur erinnert es zudem durchaus an pastorale Werke. Bach selbst schuf eine Bearbeitung dieses Mittelsatzes für andere Besetzungen (Tripelkonzert, BWV 1044).
AufREGERnd!
Tobias Takacs feierte in seinem Matineekonzert auch den Jubilar Max Reger. Für sein Orgelschaffen waren Regers Jahre in Weiden äußerst ergiebig: Zig Orgelwerke, die Regers dauerhaften Ruhm begründen sollten, entstanden in dieser Zeit. Besonderen Erfolg beschieden ihm die Zwölf Stücke für die Orgel, op. 59, die Mitte Juni bis Mitte Juli 1901 entstanden – sieben der zwölf Stücke (Nr. 2, 5, 6, 7, 8, 9 und 12) zählen heute zum festen Repertoire von Organistinnen und Organisten. Der Komposition ging dabei eine Anfrage des Leipziger Verlags C. F. Peters nach mittelschweren Orgelstücken voraus. Bis dahin hatte der „Akkordarbeiter“ Reger nahezu exklusiv Virtuosenmusik für Konzertorganist:innen komponiert. Mit den Zwölf Stücken wandte er sich nun aber explizit an Organist:innen, die „gehobene Orgelbänke“ besetzten. Die von Takacs musizierte Toccata (Nr. 5) in d-Moll wird ihrem Namen dabei mehr als gerecht – sie steht der Popularität der Bach zugeschriebenen Toccata und Fuge d-Moll, BWV 565, kaum nach. Die große Popularität des Stücks mag auch damit zusammenhängen, dass der Reger-Interpret und -Freund Karl Straube (1873–1950) seinen Studierenden in Leipzig diese Toccata stets am Beginn ihrer Reger-Studien vorlegte.
Max Reger (1873–1916); Zwölf Stücke für die Orgel, op. 59: 5. Toccata | Rudigierorgel: Tobias Takacs
Mystifizierend!
Der 1862 im elsässischen Ensisheim als Sohn eines Apothekers geborene Léon Boëllmann war ab 1871 Schüler in der École de Musique Classique et Religieuse an der École Niedermeyer, wo er bei Direktor Gustave Lefèvre (1831–1910) und Eugène Gigout (1844–1925) studierte. Nach seinem Abschluss 1881 wurde Boëllmann zunächst organiste de chœur an Saint-Vincent-de-Paul in Paris. 1885 heiratete er Gustav Lefèvres Tochter (und gleichzeitig Eugène Gigouts Nichte) Louise. Das Paar zog schließlich ins Haus von Gigout, der Boëllmann adoptierte, was dazu führte, dass dieser mit den besten Kreisen der französischen Musikwelt in Kontakt kam und durch seine offene, sympathische Art mit vielen Künstler:innen Freundschaft schloss. Boëllmann unterrichtete dann auch an Gigouts École d’orgue et d’improvisation Orgelspiel und Improvisation. 1887 ernannte man ihn in Nachfolge von Alexis-Henri Fissot (1843–1896) zum Titularorganisten der Cavaillé-Coll-Orgel in Saint-Vincent-de-Paul. Die Stelle hatte er bis zu seinem frühen Tod 1897 – vermutlich infolge einer Tuberkuloseerkrankung – inne. Boëllmanns Witwe Louise starb bereits ein Jahr nach ihrem Mann Léon, sodass Eugène Gigout die drei zu Waisen gewordenen Kinder Jean, Jeanne und Marie-Louise aufzog, von denen letztere eine bekannte Orgelpädagogin wurde.
Boëllmanns kompositorisches Werk, das in den nur sechzehn Jahren seines Berufslebens entstand, umfasst rund 160 Werke und reflektiert in der Traditionslinie von Camille Saint-Saëns (1835–1921), César Franck (1822–1890) und Eugène Gigout die Eleganz und Mondänität der Belle Époque. Unter dem Titel Heures Mystiques, op. 29 und 30, veröffentlichte der Komponist 1896 eine Sammlung von hundert kurzen Stücken für Orgel oder Harmonium, die Organist:innen einen Fundus von leicht spielbaren Stücke für die liturgische Praxis bieten sollten. Aus dieser Sammlung (op. 30) musizierte Takacs das Offertoire in As-Dur.
Unterhaltend!
Mit zwei Sätzen (Meditation sowie Fanfare and Finale) aus Paul Spicers Kiwi Fireworks (Variations on God defend New Zealand) präsentierte Takacs das Werk eines zeitgenössischen Komponisten. Der 1952 in Bowdon/Greater Manchester geborene Spicer ist eng mit der englischen Musik des 20. Jahrhunderts verbunden, insbesondere mit Namen wie Herbert Howells (1892–1983) und Gerald Finzi (1901–1956). Seine Schwerpunkte – Chor und Orgel – bringt er bis heute als Dirigent, Interpret, Komponist sowie als Musikproduzent ein.
Die von unterhaltenden und humorvollen Elementen geprägten Kiwi Fireworks (Variations on God defend New Zealand) mit deutlich anglophiler Extravaganz wurden 1995 von Christopher Herricks in der Wellington Town Hall uraufgeführt. Die Komposition zitiert zunächst eine spaßig-ernsthafte „französische“ Ouvertüre, bevor das Thema der neuseeländischen Nationalhymne in extravaganter harmonisch verkleideter Form ertönt (Overture and Theme). Ein manualiter gespieltes Scherzo erinnert schließlich an die Musik von Percy Whitlock (1903–1946). Die im Matineekonzert FIREWORKS! musizierte Meditation ist schließlich als Hommage an den englischen Komponisten Herbert Howells zu sehen. Der darauffolgende Tanz (Dance) präsentiert sich ähnlich wie das Scherzo in ständig wechselndem Metrum. Der von Tobias Takacs gespielte Schlusssatz Fanfare and Finale in Toccatenform greift weitere Tanzrhythmen auf und zitiert schließlich den Chor All we, like sheep aus Händels Messiah und ehrt auf diese Weise die Schafe, für die der Inselstaat bekannt ist, gibt es doch zigmal mehr Schafe als Menschen in Neuseeland ...
Stefanie Petelin
Arthur Chauvineau/unsplash.com/Unsplash License (Sujet) / Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin (Konzertfotos)