FARBENSPIEL! mit Elisabeth Zawadke
Mit ihrem zart schillernden FARBENSPIEL an der Rudigierorgel würdigte die phänomenale Elisabeth Zawadke am 17. August 2023 vier musikalische Jubilare des Jahres 2023: Bernard Foccroulle (*1953), Joseph Jongen (1873–1953), Augustinus Franz Kropfreiter (1936–2003) und Max Reger (1873–1916). Dazu gab's noch ein Orgelwerk aus der Feder von Domorganist Wolfgang Kreuzhuber, das sich Elisabeth Zawadke – wie sie zuvor in ihrem domorgelsommerlinz-Interview verraten hat – gewünscht hatte.
Toccatastisch!
Eröffnet wurde der klangfarbenprächtige Konzertabend mit einem Werk des belgischen Komponisten Joseph Jongen, dessen 150. Geburtstag und 70. Todestag die Musikwelt 2023 feiert. Der 1873 in Lüttich geborene Jongen trat bereits mit sieben Jahren in das Conservatoire Royal de Liège ein, wo er seine musikalische Ausbildung in Komposition, Orgel und Klavier erhielt. 1898 bis 1904 versah er zusammen mit seinem jüngeren Bruder Léon Dienst an der Orgel von Saint-Jacques in Lüttich. Der belgische Prix de Rome 1897 ermöglichte Jongen eine mehrjährige Reise durch Deutschland, Frankreich und Italien, auf der er die Musik von Johannes Brahms kennenlernte, Kompositionsunterricht bei Richard Strauss nahm und Bekanntschaft mit Gabriel Fauré machte. Ab 1905 ließ er sich in Brüssel nieder und lehrte am Lütticher Konservatorium, wo er 1911 zum Professor für Harmonielehre ernannt wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg, den Jongen gemeinsam mit seiner Familie in Großbritannien verbrachte, wo er das Quatuor belge de Londres gründete und regelmäßig Klavier- und Orgelkonzerte gab, wurde er 1920 am Conservatoire royal de Bruxelles zum Professor ernannt. Von 1925 bis zu seiner Pensionierung 1939 wirkte Jongen als Direktor dieser Einrichtung. Er starb 1953 in seinem Sommerhaus in Sart-lez-Spa.
Internationale Bekanntheit verdankt Jubilar Jongen heute seinen Orgelwerken, die ihre Verwurzelung in César Francks Schule offenlegen und sich durch harmonische Farbigkeit auszeichnen. In einer Anmerkung zu seiner 1935 komponierten und seinem Freund Georges Alexis gewidmeten Toccata, op. 104, bemerkt er, dass diese sich nicht durch Geschwindigkeit, sondern durch an Raum und Instrument angepasste Regelmäßigkeit, mit der die Akkorde von beiden Händen gespielt werden, auszeichnet.
Populär!
Nicht nur in Weiden wird 2023 der 150. Geburtstag eines Multitalents gefeiert, der sich gerne mit folgenden Worten vorstellte: „Gestatten Reger, Max ... Reger – von vorne wie von hinten.“ Als Markenzeichen des 1873 im oberpfälzischen Brand geborenen Komponisten darf man wohl Maßlosigkeit nennen – bei Speis und Trank, bei Tabak- und Alkoholkonsum, bei Humor und Witz ... und auch in der Musik, der der rastlose Geist alles unterordnete. Dass er sich selbst in Hotelgästelisten als „Accordarbeiter“ eintrug, spiegelt deutlich seine Lebenseinstellung wider: Denn Reger nutzte eigenwillige Akkorde und spannungsreiche harmonische Verbindungen und maß dem Handwerk dabei große Bedeutung bei, Reger arbeitete aber auch im Akkord und produzierte so zeitlebens Werk um Werk, bearbeitete, korrigierte, unterrichtete und konzertierte pausenlos, oft zu Lasten seiner psychischen und physischen Gesundheit. Nach einem nur 43 Jahre währenden Leben hinterließ Max Reger nach seinem Tod 1916 daher ein gewaltiges Œuvre.
Unter Regers Sammlungen von freien Orgelstücken nehmen die Mitte Juni bis Mitte Juli 1901 entstandenen Zwölf Stücke für die Orgel, op. 59, eine herausragende Stellung ein, insbesondere das im Konzert musizierte Benedictus zählt zum unverzichtbaren Bestand des Orgelrepertoires des Komponisten. Der Komposition der Sammlung ging dabei eine Anfrage des Leipziger Verlags C. F. Peters nach mittelschweren Orgelstücken voraus. Bis dahin hatte Reger – wofür er von den einen groß gefeiert und von den anderen heftig kritisiert wurde – nahezu exklusiv Virtuosenmusik für Konzertorganist:innen komponiert. Mit den Zwölf Stücken wandte sich Max Reger nun aber explizit an Organist:innen, die „gehobene Orgelbänke“ besetzten und erzielte damit erstmals große Breitenwirkung und einen enormen Verkaufserfolg.
Das Benedictus stellt vermutlich das meistgespielte freie Orgelwerk Regers zu dessen Lebzeiten dar. Heinrich Langs Einschätzung in seiner Noten-Rezension in der Allgemeinen Musik-Zeitung bewahrheitete sich also: „Diese Orgelstücke […] sind wahre Fundgruben von Schönheiten für jeden perfekten Orgelspieler und sie werden überall ihr begeistertes Publikum finden.“ So auch bei diesem FARBENSPIEL im Mariendom Linz.
Verwandelt!
Die Komposition Verwandlung wurde am 21. September 2000 im Mariendom von ihrem Schöpfer Wolfgang Kreuzhuber an der Rudigierorgel uraufgeführt. Das Werk entstand für ein Konzert im Rahmen des Brucknerfestes, in dem sich der Linzer Domorganist Werken von Anton Bruckner, aber auch Werken, die dieser selbst an der Orgel musiziert hatte, zuwandte. Intention war eine Rahmung dieses Brucknerschen Kerns mit einer Neukomposition zu Beginn und einer freien Improvisation am Ende des Konzerts. Das Werk setzt sich daher mit dem Thema des Bläserchorales aus dem Finale von Anton Bruckners fünfter Sinfonie, von diesem selbst als „kontrapunktisches Meisterstück“ bezeichnet, auseinander. Aus verschiedenen Perspektiven wird darin das Bläserchoralthema rhythmisch und melodisch verändert und dadurch – wie der Titel des Stücks erahnen lässt – „verwandelt“. In seiner dreiteiligen Form schält sich das Thema knapp vor der Reprise aus seinen Veränderungen und erklingt im Brucknerschen Original. Am Ende der Komposition, die durch einen dynamischen Entwicklungsprozess gekennzeichnet ist, entschwindet das verwandelte Thema wieder und verklingt im Pianissimo – am besten hineinhören und schon einen Blick in die Zukunft zu den Jubiläen „100 Jahre Mariendom Linz“ und „200 Jahre Anton Bruckner“ werfen:
Wolfgang Kreuzhuber (*1957): Verwandlung | Rudigierorgel: Elisabeth Zawadke
Koloriert!
Bernard Foccroulle, 1953 in Lüttich geboren, zählt heute nicht nur zu den renommiertesten Organisten auf historischen Orgeln, sondern gilt auch als einer der bedeutendsten belgischen Komponisten seiner Zeit. Diese Eigenschaften verbinden sich in mehreren Werken, in denen er die besondere Klangfarbe historischer Instrumente für eigene zeitgenössische Tonschöpfungen nutzt. Das von Elisabeth Zawadke musizierte Stück Kolorierte Flöten entstand 2007 anlässlich der Weihe der vom barocken Orgelbau in Sachsen und Thüringen inspirierten Orgel im Temple du Bouclier in Strasbourg aus der Werkstatt des Orgelbauers Dominique Thomas, dem das Werk auch gewidmet ist. Die Komposition entfaltet sich dabei aus einem im Wesentlichen melodischen Material und entwickelt eine zunehmend üppige Ornamentik. Mit ihren subtilen Farbverläufen hebt das Werk den Reichtum an 8‘- und 4‘-Registern des Instruments hervor, ohne auf Mischungen wie das Mixturenplenum zurückzugreifen. Lediglich das Terzregister tritt im letzten Abschnitt in Erscheinung.
Bizarr!
Bei Jongens Menuet – Scherzo handelt es sich um das zweite der 1917 in London entstandenen Deux Pièces, op. 53. Wie Chant de May , das Domorganist Wolfgang Kreuzhuber in seinem ANTONALen Konzert erklingen ließ, ist es pianistisch beeinflusst, insbesondere wohl vom Mouvement de menuet der Sonatine von Maurice Ravel aus dem Jahr 1905, doch behandelt Jongen das musikalische Material speziell für die Orgel: Die Manualpartien fungieren als orchestrale Gruppen, das Pedal präsentiert sich als selbständige Stimme. Mit den lebendigen Themen, der bizarren Form, der rasch wechselnden Artikulation und der subtilen Registrierung ist Jongens Stück wohl eines der interessantesten belgischen Orgelwerke seiner Zeit. Jongen spielte oft Interludien in Programmen anderer Künstler – auf einen solchen Anlass gehen auch die Deux Pièces zurück: Diese wurden am 28. April 1917 unter dem Titel Two Sketches: Aria & Menuetto als Interludium eines Recitals der Sopranistin Blanche Marchesi in der Steinway Hall in London vom Schöpfer uraufgeführt.
Effektvoll!
Mit dem Triptyque angélique gedachte Elisabeth Zawadke eines der bedeutendsten österreichischen Orgelkomponisten des 20. Jahrhunderts: Augustinus Franz Kropfreiter. Der 1936 in Hargelsberg geborene Musiker trat 1953 in das Augustiner-Chorherrenstift St. Florian ein und besuchte wenig später das Brucknerkonservatorium in Linz. 1956 bis 1960 setzte Kropfreiter seine Studien an der Wiener Musikakademie fort. Zurück in St. Florian ernannte man ihn zunächst zum zweiten, 1978 zum ersten Stiftsorganisten und übertrug ihm Lehrtätigkeiten bei den Florianer Sängerknaben, 1965 wurde er Regens Chori des Stiftschores. Als anerkannter Organist und leidenschaftlicher Improvisator, als überwiegend für die Orgel tätiger Komponist, dessen Werke einerseits von Hindemiths Kontrapunkt geprägt und andererseits vom französischen Kolorit Alains und Martins beeinflusst sind, starb Augustinus Franz Kropfreiter 2003 in St. Florian.
Als Quelle für die im Jahr 2000 entstandene Auftragskomposition erhielt er die freien Werke sowie die Tanzwerke des Joan Chrÿsostomus z‘Bären Sohn aus dem in der Obwaldner Voralpenlandschaft gelegenen Sachseln. Publiziert wurde das Werk als Teil des Luzerner Orgelbuchs II (Neukompositionen im Spiegel des Barock), das intendiert, „das Heute aus dem Barock zu schälen“. Die Thematik der Komposition ist der Orgeltabulatur Intrada Angelica aus dem Jahr 1637 entnommen, aus der sich auch der Werktitel ableitet. Der erste Teil (Grave) verarbeitet dabei nur den Themenkopf, der zweite Teil (Rezitativ) schließlich das ganze Thema, der dritte Satz (Allegro non tanto) präsentiert sich zuletzt als virtuose, effektvolle Toccata. Die Uraufführung des Triptyque angélique erfolgte am 10. November 2001 durch Imelda Natter in der Pfarr- und Stiftskirche zu St. Leodegar im Hof Luzern, deren damaliger Stiftsorganist Wolfgang Sieber auch Widmungsträger der Komposition ist. Augustinus Franz Kropfreiters Beziehung zur Leuchtenstadt war wohl eine besondere, wie er selbst im Vorwort des Luzerner Orgelbuchs II verriet: „Meine Verbindung zu Luzern war und ist immer lebendig; ich liebe die Stadt wegen seiner wunderbaren Lage und seiner schönen Kirchen.“
Kontrastreich!
Nach einigen Jahren intensiven Komponierens fühlte sich der nahezu von Musik besessene Max Reger in der abgeschiedenen Atmosphäre seines Heimatstädtchens Weidens mehr und mehr eingeengt und zog daher am 1. September 1901 nach München, wo er sich neue musikalische Perspektiven erhoffte. Vor diesem biografischen Kontext entstand im November/Dezember 1901 auf Wunsch des Verlages F. E. C. Leuckart die Zweite Sonate d-Moll, op. 60, die Elisabeth Zawadke bei ihrem musikalischen FARBENSPIEL im Linzer Mariendom erklingen ließ.
Das dreiteilig angelegte, klar strukturierte Werk ist Franz Listzts Schüler Martin Krause „in herzlichster Dankbarkeit zugeeignet“. Der Verleger Constantin Sander, bereits auf das Manuskript wartend, wurde von Max Reger am 11. Dezember 1901 informiert: „Daß ich Ihnen meine Orgelsonate noch nicht sandte, liegt daran, daß ich immer und immer an dem Werk feile, d.h. es wird immer wieder durchgenommen.“ Am 17. Dezember 1901 war die Komposition schließlich finalisiert und der Tondichter teilte Widmungsträger Krause mit: „Die Sonate ist fix und fertig! Hurra!“ Uraufgeführt wurde Regers Komposition am 11. Mai 1902 im Merseburger Dom von Hermann Dettmer.
Musikalischer und technischer Anspruch der Sonate sind in Reger-Manier hoch. Ein weitgehend melancholischer Tonfall und dynamische Kontraste prägen das Werk. Der erste, siebenteilig angelegte Satz (Improvisation) ist klar strukturiert durch kürzere leise Teile. Der zweite Satz (Invokation) stellt eine Anrufung dar, eine zwischen Verzagen und Aufbäumen changierende Klage, deren Erhörung durch den Choral Vom Himmel hoch, da komm ich her symbolisiert wird und so Erlösung verspricht. Beide Elemente (Introduktion und Fuge) des dritten Satzes sind dreiteilig aufgebaut. Mit einer Engführung des Themas und leuchtkräftigen Akkorden endet Regers Zweite Sonate d-Moll schließlich – welch prächtiges Finale war das für dieses wunderbar bunte FARBENSPIEL von Elisabeth Zawadke beim domorgelsommerlinz23 an der Rudigierorgel! Für die gebürtig aus München stammende und in Italien lebende Organistin gab's daher lautstarken Applaus und Standing Ovations – für Werkauswahl wie Interpretation! Als Dank dafür schenkte die Vollblutmusikerin dem Publikum noch eine Zugabe aus der Feder von Edwin Henry Lemare (1865–1934), die man – wie sie verriet – „mit Augenzwinkern“ spielen müsse.
Stefanie Petelin
misku/pixabay.com/Pixabay License (Sujet) / Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin (Konzertfotos)