XENIAL! mit Xenia Preisenberger
Xenia Preisenberger, derzeit als Diözesankantorin der Evangelischen Kirche Oberösterreich und Kirchenmusikerin in der Evangelischen Pfarrgemeinde Linz-Innere Stadt tätig, musizierte bei ihrem Matineekonzert XENIAL! am 13. August 2023 Werke von Nadia Boulanger (1887–1979), Maurice Duruflé (1902–1986), Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) und Georg Muffat (1653–1704).
Der Lullist!
Mit Georg Muffats Toccata prima in d-Moll aus dem Apparatus musico-organisticus eröffnete Preisenberger ihr XENIALes Konzert. Der Apparatus musico-organisticus umfasst 15 Werke (zwölf Toccaten, hinzu kamen eine Ciacona, eine Passacaglia und die Nova cyclopeias harmonica), wurde 1690 in Salzburg veröffentlicht und ist Kaiser Leopold I. gewidmet. Im Vorwort der damals größten Sammlung an Orgelwerken bemerkt der Komponist: „Das übrige wirst du / als ein mit Verstand begabter Musicus mit gar leichter Mühe von selbsten abnehmen. Indessen wollest du diese meine Art / als die ich mit der aus dem steten Umgang und Gemeinschaft mit denen vornehmsten Organisten in Teutschland / Welschland / und Frankreich / erlangten Erfahrenheit vermischet habe / und welche noch nicht eben so bekannt / und gebräuchlich ist / versuchen / und nach Belieben / für genehm halten. Liebe Gott / und lobe ihn in Saiten und Orgeln.“
Georg Muffat wurde 1653 in Mégève im damaligen Herzogtum Savoyen geboren – seine Vorfahren väterlicherseits stammten übrigens aus dem schottischen Ort Moffat. Muffat erhielt seine musikalische Ausbildung von 1663 bis 1669 in Paris und lernte dort die Musik von Jean-Baptiste Lully (1632–1687) kennen. Nach Stationen in Schlettstadt und Molsheim begann er mit 21 Jahren ein Jura-Studium in Ingolstadt und zog anschließend nach Wien. Ab 1678 wirkte er in Salzburg als Domorganist und Kammerdiener bei Erzbischof Maximilian Gandolph Graf von Kuenburg. 1680/1681 wurde ihm ein längerer Aufenthalt in Italien ermöglicht, wo er das Werk des damals berühmtesten Violinenvirtuosen Arcangelo Corelli (1653–1713) kennenlernte, was ihn stark beeinflusste. Nach dem Tod seines Dienstherrn und wegen mangelnder Aufstiegschancen in Salzburg wechselte Muffat 1690 als Kapellmeister nach Passau an den Hof des Bischofs Johann Philipp von Lamberg, wo er 1693 zum Domkapellmeister ernannt wurde. Muffat starb 1704 mit 51 Jahren in Passau.
Der musikalische Kosmopolit Muffat schuf viele Instrumental- und insbesondere Orgelkompositionen und vereint in seinem Werk stilistische Merkmale der Musik von Jean-Baptiste Lully, Bernardo Pasquini (1637–1710) und Arcangelo Corelli mit Idiomen der süddeutschen Tradition. Im Vorwort seines ersten Suitenbandes (Florilegium Primum, 1695) hält er zu seinem Schaffen daher auch fest: „Die Kriegerische Waffen und ihre Ursachen seyn ferne von mir; Die Noten, die Seiten, die liebliche Music-Thonen geben mir meine Verrichtungen, und da ich die Französische Art der Teutschen und Welschen einmenge, keinen Krieg anstiffte, sondern vielleicht derer Völker erwünschter Zusammenstimmung, dem lieben Frieden etwann vorspiele.“
Der Bachianer!
Aus Felix Mendelssohn Bartholdys Instrumentalwerk musizierte Xenia Preisenberger an der Rudigierorgel die Sonate Nr. 4 in B-Dur, op. 65/4 (MWV SD 56). Mendelssohn Bartholdys Werk markiert einen wesentlichen Wendepunkt in der Geschichte der Orgelmusik. Nach Bachs Tod 1750 war Mendelssohn der erste Komponist von internationalem Rang, der sich wieder ernsthaft mit dem „König der Instrumenten“ auseinandersetzte. Mendelssohn hatte 1844 auf Drängen englischer Orgelfreunde eine Serie von 24 Orgelstücken – auch unter Verwendung älteren Materials – komponiert. Geplant waren diese Stücke zunächst als „a kind of organ-school“, ein didaktisches Werk im Sinne von Bachs „Orgel-Büchleins“. Coventry & Hollier, der englische Verlag Mendelssohns, schlug schließlich vor, die 24 Stücke zu mehrsätzigen „Voluntaries“ zusammenfassen – doch diese Bezeichnung fand bei Mendelssohn keinen Anklang und so überarbeitete er die Stücke nochmals, ordnete sie neu und kündigte sie 1845 seinem deutschen Verleger Breitkopf & Härtel als sechs Sonaten an – in einem Brief vom 10. April 1845 schrieb er dazu: „Das Werk für Orgel, wovon ich Ihnen zu Anfang des Winters sprach, habe ich nun beendigt, es ist aber größer geworden, als ich früher selbst gedacht hatte. Es sind nämlich 6 Sonaten, in denen ich meine Art die Orgel zu behandeln und für dieselbe zu denken niederzuschreiben versucht habe. Deswegen möchte ich nun gern, daß sie als ein Werk herauskämen.“ Veröffentlicht wurden die sechs Sonaten, die nicht der klassischen Sonate in Sonatensatzform entsprechen, sondern den Versuch Mendelssohn Bartholdys darstellen, Form- und Gestaltungselemente weiterzuentwickeln, schließlich am 15. September 1845 gleichzeitig in Leipzig, London, Mailand und Paris. Die von Preisenberger gespielte Sonate Nr. 4 – bestehend aus dem improvisatorisch anmutenden Allegro con brio, dem liedhaften Andante religioso, dem empfindungsreichen Allegretto und dem prägnanten Allegro maestoso e vivace – entstand dabei als letzte der sechs Sonaten. „[...] auf Orgelspiel bin ich versessen“, hatte Mendelssohn Bartholdy in einem Brief am 26. Juli 1822 aus Stuttgart an Carl Friedrich Zelter (1758–1832) geschrieben – und wenn man diese Musik hört, dann versteht man das zu gut ...
La Boulangerie!
Mit Nadia Boulangers sphärisch anmutendem Prélude aus ihren für die Anthologie Maîtres contemporains de l’Orgue komponierten Trois Improvisations von 1911 musizierte Xenia Preisenberger das Werk einer Komponistin, die als musikalische Multibegabung Pionierarbeit leistete und als eine der wichtigsten musikpädagogischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts mehr als 1000 Schülerinnen und Schüler aus aller Welt unterrichtete.
Nadia Boulanger wuchs als eine der Töchter des Komponisten und Pianisten Ernest Boulanger und der russischen Sängerin Raïssa Mychtsky in der kulturellen Elite des Pariser Fin de Siècle auf. Sie besuchte bereits ab ihrem neunten Lebensjahr das Conservatoire de Paris, fungierte im Alter von fünfzehn Jahren als stellvertretende Organistin von Gabriel Fauré (1845–1925) an La Madeleine und hatte mit zwanzig Jahren ihre erste offizielle akademische Anstellung. Ihre jüngere Schwester Lili (1893–1918) war 1913 die erste Frau, die den begehrten Prix de Rome gewann, der am Beginn vieler Komponistenkarrieren stand. Mit nur 24 Jahren starb die künstlerisch mutigere der Boulanger-Schwestern an einer Lungenkrankheit – ihr Tod markiert jenen Moment, an dem Nadia das eigene Komponieren aufgab, um sich fortan der Verbreitung des Werks ihrer Schwester und der Lehre zu widmen. Ihr kompositorisches Werk ist demnach nicht sehr groß und heute nahezu unbekannt, besticht aber durch Schönheit, Originalität und Individualität und präsentiert genial XENIALe musikalische Juwelen. Wie sagte Boulanger selbst einmal so schön: „Musik wurde vom Komponisten nicht erfunden, sondern gefunden.“ Insofern ist es bedauerlich, dass Boulanger nach dem Tod ihrer Schwester ihre Kompositionstätigkeit beendete und dieses „Finden“ aufgab.
Eine enge künstlerische Beziehung entwickelte sich zwischen Nadia Boulanger und dem Klaviervirtuosen Raoul Pugno (1852–1914), mit dem sie als Klavierduo auftrat und gemeinsam an der Oper La ville morte arbeitete. Die inspirierende wie ungleiche Beziehung zu ihrer Schwester und zu Pugno brach jäh durch den Tod beider ab: 1914 starb Raoul Pugno auf einer gemeinsamen Tournee in Moskau, 1918 verschied Lili Boulanger infolge einer Lungenerkrankung. Daraufhin wandte sich Nadia Boulanger der Lehre am neu gegründeten Conservatoire Américain Fontainebleau zu – die charismatische Pädagogin mit dem scharfen Intellekt wurde schnell berühmt für ihre Leidenschaft und ihre Hingabe an den Unterricht, in dessen Zentrum die musikalisch-kompositorische Individualität der Studierenden stand. Die musikalische Lehre der tiefgläubigen Katholikin hatte dabei stets eine ausgeprägt spirituelle Herangehensweise, so verstand „Mademoiselle“, wie sie genannt wurde, ihre musikalischen Interpretationen außerdem als Dienst an der Musik und ihren Meistern. In den späten 1930er-Jahren war Boulanger die erste Frau, die das New York Philharmonic Orchestra und das Boston Symphony Orchestra dirigierte. Durch die – scherzhaft als „Boulangerie“ bezeichnete – kompromisslos ehrliche, aber hingebungsvolle Schule von Nadia Boulanger gingen mehrere Generationen von Komponisten, u.a. studierten bei ihr Aaron Copland, Philip Glass, Quincy Jones oder Igor Strawinsky; sie hat so vermutlich zu Werken von The Common Man bis Thriller beigetragen.
La Picardie!
Mit der Fugue sur le thème du Carillon des Heures de la Cathédrale de Soissons, op. 12, erklang eine Komposition von Maurice Duruflé, dessen Gesamtwerk nur vierzehn mit Opuszahl versehene Werke umfasst, da er nur einen Bruchteil seines Schaffens zur Veröffentlichung freigab, obwohl er nahezu sein Leben lang komponierte. Der 1902 in Louviers geborene Organist und Komponist war zunächst Privatschüler von Louis Vierne und Charles Tournemire, bevor er am Conservatoire de Paris bei Paul Dukas, Jean Gallon und Eugène Gigout studierte. 1929 wurde er Organist an der Pariser Kirche St. Étienne-du-Mont, 1943 berief man ihn ans Conservatoire als Professor für Harmonielehre. Zehn Jahre später heiratete Duruflé die Organistin Marie-Madeleine Chevalier (1921–1999), mit der er oft gemeinsam auftrat. Das Paar erlitt 1975 allerdings einen schweren Autounfall, der beider Organistenkarriere beendete. Duruflé starb 1986 in Paris.
Bei der musizierten Fugue sur le thème du Carillon des Heures de la Cathédrale de Soissons handelt es sich um ein Auftragswerk des Kanonikus Henri Doyen, Organist an der Kathedrale von Soissons in der Picardie, anlässlich des 25. Todestags von Louis Vierne. Die Kathedrale von Soissons beherbergte eine Gonzales-Orgel von 1956, die zu den Lieblingsinstrumenten von Maurice Duruflé zählte, 2017 aber leider durch den Sturm Egon zerstört wurde. Das absteigende, achttönige Thema der Komposition aus dem Jahr 1962 ist dem Glockenspiel von Soissons entnommen. Duruflé verwendet es in Umkehrung, Steigerung und Stretto, bis es die gesamte toccatenartige Anlage durchdrungen hat und die sehr freie Fuge, die sich fast ausschließlich modal präsentiert, mit einer Reihe von schmetternden Akkorden in a-Moll endet. Was für ein XENIALes Finale dieses Matineekonzerts im Linzer Mariendom!
Stefanie Petelin
FinjaM/pixabay.com/Pixabay License (modifiziert) / Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin (Gestaltung) (Sujet) / Dommusikverein Linz/Florian Zethofer (Konzertfotos)