Gott kommt uns entgegen
Nach coronabedingten Absagen im Jahr 2020 und 2021 öffnete Advent am Dom am ersten Adventswochenende 2022 erstmals seine Tore. In der im Rahmen dieses Weihnachtsmarktes stattfindenden Reihe TÖNE & WORTE – so klingt Advent! sind an jedem Adventssonntag ab 17.00 Uhr Orgelmusik und Texte zu hören. Am ersten Adventssonntag 2022 gestalteten Domorganist Wolfgang Kreuzhuber an der Rudigierorgel und Christoph Niemand am Mikrofon unter dem Motto Gott kommt uns entgegen 45 adventliche Minuten mit Improvisationen über fünf Adventslieder sowie begleitenden Texten, die diese bekannten und beliebten Lieder erschlossen und meditierten.
Spannungsgeladen: O Heiland, reiß die Himmel auf
Eröffnet wurde Töne & Worte mit einer Improvisation über O Heiland, reiß die Himmel auf – ein Lied, das nicht nur Wolfgang Kreuzhubers Lieblingsadventslied und „der Türöffner zum Advent schlechthin“ (Christoph Niemand) ist, sondern im Jahr 2022 auch seinen 400. Geburtstag feiert. Denn erstmals erschien das gar nicht sanfte und liebliche, sondern fast ein wenig herbe Adventslied mit seinem sperrigen Text, den Sprachbildern aus dem Buch Jesaja, und ein wenig fremd klingender Melodie 1622 in der Würzburger Liedersammlung Das Allerschönste Kind in der Welt. Zugeschrieben wird , der sich als Autor von Cautio criminalis (1631) in die europäische Menschenrechtsgeschichte einschrieb. Entstanden ist das dem Jesuiten Friedrich Spee von Langenfeld (1591–1635) zugeschriebene O Heiland, reiß die Himmel auf demnach in einer Zeit des Elends, der Not und der Dunkelheit, denn der Dreißigjährige Krieg währte zu dieser Zeit bereits seit fünf Jahren, Pest und Cholera wüteten, Hungersnöte fegten durchs Land und Hexenverfolgung und Plünderer verbreiteten Angst und Schrecken. Das Lied wurde zunächst offenbar auf eine andere Melodie gesungen, bevor die heute bekannte Version mit der Melodie im ersten Kirchenton 1666 erstmals im Rheinfelsischen Gesangbuch auftauchte. Für Wolfgang Kreuzhuber bietet das Lied immer wieder neue und spannende Möglichkeiten der Improvisation „aufgrund der verwendeten Kirchentonart, seiner außergewöhnlichen Melodik und der interessanten Modulationen innerhalb des Liedes“. Und das 400 Jahre alte Lied ist für ihn auch heute noch zeitgemäß, ist es doch der „unaufhörliche Ruf nach Gerechtigkeit“, ein Lied, das „mit dynamischen Verben und klagenden Ausrufen immer wieder danach schreit: Komm endlich zu mir und erlöse mich!“ Denn Spee nimmt in seinem Liedtext die Situation nicht einfach hin: „Er leidet bitter darunter und schreit nach Veränderung, nach Erlösung, nach Heil. Und wünschen wir uns nicht auch heute Veränderung, wünschen wir uns nicht auch, er möge Gerechtigkeit und Frieden vom Himmel herabregnen lassen?“ – So fasst Domorganist Kreuzhuber die Aktualität der Komposition treffend zusammen.
Überraschend: Maria durch ein Dornwald ging
Aus dem Eichsfeld im heutigen Hessen, Niedersachen und Thüringen stammt das Lied, über das Domorganist Wolfgang Kreuzhuber an der Rudigierorgel, als deren „Hüter und bester Freund“ er von Christoph Niemand in der Einleitung vorgestellt worden war, anschließend improvisierte: Maria durch ein Dornwald ging. Erstmals publiziert wurde die mittelalterlich-archaisch anmutende Komposition, die in ihren Ursprüngen kein Advents-, sondern ein Wallfahrtslied war, im Jahr 1850 in einer Sammlung geistlicher Lieder von August von Haxthausen und Dietrich Bocholtz-Asseburg. Die tatsächliche Entstehungszeit des Liedes ist unklar – eine Datierung auf das 16. Jahrhundert, wie zuweilen angegeben, ist nicht belegbar. Populär wurde das Lied zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Liederbücher der Jugendbewegung (1910 im Jugenheimer Liederblatt, 1912 im Zupfgeigenhansl, 1914 in Der Spielmann) und den Wandel vom Wallfahrts- zum Adventslied. Vom den sieben Strophen der Ursprungsfassung von 1850 werden in der heute üblichen Fassung nur noch die ersten drei Strophen gesungen, die sich auf die Perikope von Marias Besuch bei Elisabeth (Lk 1,39–56) beziehen. Das Motiv des abgestorbenen Dornwaldes steht dabei für die Unfruchtbarkeit, für den Tod; er beginnt durch Marias Vorbeigehen zu blühen – oder um es mit Hilde Domin zu sagen: Es blüht hinter Maria mit dem göttlichen Kind her.
Freudig: Macht hoch die Tür
Mit einer Improvisation über Macht hoch die Tür rückte Domorganist Wolfgang Kreuzhuber schließlich ein in Ostpreußen entstandenes Kirchenlied aus dem 17. Jahrhundert in den Fokus, das vermutlich zu den bekanntesten und beliebtesten Adventsliedern überhaupt zählt und seinen Weg nicht nur in verschiedene christliche Gesangbücher im deutschsprachigen Raum, sondern auch in andere Länder gefunden hat. Der Text des Liedes wurde anlässlich der am zweiten Advent 1623 stattfindenden Einweihung der neu errichteten evangelischen Altroßgärter Kirche in Königsberg von Pfarrer Georg Weissel (1590–1635) verfasst, der am dritten Adventssonntag an dieser Kirche als erster Geistlicher eingeführt wurde. Weissel eröffnet seine Schöpfung mit einem Zitat aus Psalm 24 in der Luther-Übersetzung, der in enger Verbindung mit der Perikope des ersten Adventssonntags in der lutherischen Liturgie vom Einzug Jesu in Jerusalem (Mt 21,1–9) steht. Der Gesang ist damit in seinen Ursprüngen ein Gesang zum ersten Advent. Ursprünglich wurde das Lied in einer Vertonung von Johann Stobäus (1580–1646) gesungen, die 1642 erstmals in der Sammlung Preussische Fest-Lieder publiziert wurde. Diese Vertonung konnte sich allerdings nicht durchsetzen: Die heute übliche Melodie des Liedes im 6/4-Takt erschien erstmals 1704 im Freylinghausen'schen Gesangbuch und konnte sich rasch etablieren.
Wolfgang Kreuzhuber (*1957): Improvisation über Macht hoch die Tür | Rudigierorgel: Domorganist Wolfgang Kreuzhuber
Geheimnisvoll: Es kommt ein Schiff, geladen
Es kommt ein Schiff, geladen – dieser adventliche Choral mit dem geheimnisvollen Schiff gehört zu den ältesten deutschsprachigen geistlichen Gesängen. Ein Schiff gilt bis heute als Metapher für die Begegnung zweier Welten, für Aufbruch und Ankunft in neue Welten, bei Tauler ist das Schiff jedoch ein Bild für die Seele, die unterwegs ist, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie ankommen, an dem sie ankern kann. Oder wie Christoph Niemand so schön sagte: „Auch wir sind es, die – wie Maria, mit Maria – Gottes Sohn in der Welt ankommen lassen. Durch Maria und durch uns ankert Gottes Weisheit und Wort – Jesus Christus – bleibend unter den Menschen.“ Damit bringt er wohl zum Ausdruck, was Angelus Silesius in seinen berühmten Versen schrieb: „Wird Christus tausendmal in Betlehem geboren doch nicht in dir: du bleibst noch ewiglich verloren.“
Dieses alte Lied, über das Domorganist Kreuzhuber improvisierte, wurde in der frühen Neuzeit von Katholik:innen wie Protestant:innen aufgegriffen: Das katholische Andernacher Gesangbuch von 1608 überliefert erstmals die vermutlich aus dem Elsass stammende Melodie zum Lied, die ein musikalisches Spiel mit Dreier- und Vierertakt spielt. Das 1626 veröffentlichte evangelische Straßburger Gesangbuch des Pfarrers und Mystikers Daniel Sudermann (1550–1631) berichtet, dass Sudermann es im Nachlass des mittelalterlichen Mystikers Johannes Tauler (um 1300–1361) entdeckt und bearbeitet habe, so schreibt er über Es kommt ein Schiff, geladen, es handle sich um „ein uraltes Gesang, so unter deß Herrn Tauleri Schrifften funden, etwas verständlicher gemacht: Im Thon, Es wolt ein Jäger jagen wol in des Himmels Thron“. Wirklich wiederentdeckt wurde das Lied erst wieder ab Mitte des 19. Jahrhunderts; im 20. Jahrhundert gelangte es durch Veröffentlichungen in Kirchengesangbüchern in den Kanon der Adventslieder, wobei sich auch im Gotteslob die ursprünglich evangelische Sudermann-Fassung durchsetzte.
Oberösterreichisch: Es wird scho glei dumper
Mit einer Improvisation über Es wird schon glei dumper schickte Domorganist Kreuzhuber oberösterreichische Klänge zum Abschluss von Töne & Worte am ersten Advent in die größte Kirche Österreichs. Bis heute ist dieses Lied, das zu Advent und Weihnachten einfach dazugehört, für viele schlichtweg ein „alpenländisches“ Lied – dass das Lied aus der Innviertler Gemeinde Riedau stammt, ist selbst für viele Oberösterreicher:innen eine Überraschung. Denn das Lied aus der Feder des gebürtigen Krenglbachers Anton Reidinger (1839-1912) entstand während seiner Zeit als Pfarrer in Riedau (1876–1891). Das bekannte und beliebte Lied wurde 1884 als Krippllied in der Sammlung Kripplgsangl und Kripplspiel in der oberösterreichischen Volksmundart veröffentlicht – darin scheint der Riedauer Pfarrer eindeutig als Urheber auf. Zunächst dürfte der Text entstanden sein – für die Vertonung zog Pfarrer Reidinger nämlich zunächst das bekannte Marienlied Maria zu lieben, ist allzeit mein Sinn, das er adaptierte, erweiterte und mit einer zweiten Stimme versah. In seiner Texterschließung resümierte Christoph Niemand bezüglich des Liedcharakters: „Alle, die einmal in ihrem Leben das rooming in eines Neugeborenen erlebt und mitgelebt haben, wissen: Irgendwie ist es so, wenn ein Kind bei seinen Eltern, in seiner Familie ankommt. Und so muss es wohl auch gewesen sein, als Maria und Josef und die Hirten das frisch geschlüpfte Baby Jesus hielten, in den Schlaf wiegten oder es einfach nur anschauen konnten, so als ob es gerade aus einer fernen Galaxie zu ihnen gekommen wäre.“
Wolfgang Kreuzhubers Improvisation über das Lied zauberte bereits einen kleinen Hauch von Weihnachten in den Linzer Mariendom: Denn zum Einsatz kam der Zimbelstern, der in der größten Kirche Österreichs untrennbar mit dem Weihnachtsfest verbunden ist.
Stefanie Petelin
Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin