RAUMKLANG: HARFONISCH für Harfen und Orgeln
Wolfgang Kreuzhuber und Gerhard Raab haben die 5890 Pfeifen der Rudigierorgel und die 1680 Pfeifen der Chororgel bekanntlich fest im Griff und ziehen immer wieder alle Register, um die größte Kirche Österreichs mit Klang zu erfüllen. Besonders eindrucksvoll sind Liturgien und Konzerte, in denen Domorganist und Dommusikassistent die Zuhörenden von vorne und hinten in Klang hüllen. Das musikalische I-Tüpfelchen gibt‘s dann beim traditionellen RAUMKLANG, bei dem sich seit über 20 Jahren andere Instrumente zu den beiden Orgeln im Linzer Mariendom hinzugesellen – wie beim RAUMKLANG 2022 zwei Harfen. Am 8. September 2022 wurde es also wahrhaft HARFONISCH im Dom: Denn Werner Karlinger und Martina Rifesser musizierten als Duo Virtuose Harfenisten gemeinsam mit den beiden Tastenzauberern.
Dompfarrer Maximilian Strasser begrüßte das ORGEL.SOMMER-Publikum als „Hausherr“ und stellvertretender Obmann des Dommusikvereins Linz mit folgenden Worten: „Die Harfe verbinde ich mit der Erinnerung an David. König Saul hatte Depressionen [...] und er hat danach verlangt, dass ein Harfenspieler bei ihm Musik mache, damit die Depressionen vergehen. [...] In Psalm 150 [...] werden alle Musikinstrumente aufgerufen, zum Lob Gottes zu ertönen. Ich wünsche Ihnen heute, dass diese Musikinstrumente zu Ihrer Freude ertönen, denn wenn Menschen sich freuen, ist das das Lob Gottes.“ Und die Freude an der Musik war dem ORGEL.SOMMER-Publikum wahrlich anzusehen.
Galant!
Ein Werk von Antonio Soler, dem Meister spanischer Barockmusik, dessen Geist und Charakter die Musiklandschaft Spaniens im 18. Jahrhundert prägte, eröffnete den HARFONISCHen Abend. Soler, 1729 in Olot geboren, war Sängerknabe im Kloster Montserrat, in dem er Orgel und Komposition erlernte, und trat 1752 in das Hieronymitenkloster San Lorenzo de El Escorial ein, wo er ab 1757 bis zu seinem Tod 1783 als Kapellmeister und Organist wirkte. Da der spanische Hof die Herbstmonate in El Escorial verbrachte, nahm Soler Unterricht bei Hoforganist de Nebra und Hofkomponist Scarlatti, dessen Einflüsse in Solers Werk erkennbar sind. Ab etwa 1766 wurde Soler auch der Klavierunterricht der Infanten anvertraut; als Lehrmaterial nutzte er eigene Kompositionen wie das Concierto en sol mayor (Concerto III), das der um 1770 entstandenen Sammlung Seis Conciertos de dos órganos obligados compuestos [...] para la diversión del Serenísimo Infante de España Don Gabriel de Borbón entstammt.
Antonio Soler (1729–1783): Concierto en sol mayor (Concerto III): Andantino | Duo Virtuose Harfenisten | Rudigierorgel: Domorganist Wolfgang Kreuzhuber | Chororgel: Dommusikassistent Gerhard Raab
Das für Infant Gabriel komponierte Konzert für zwei Orgeln wurde von Lehrer und Schüler im Unterricht in El Escorial musiziert. Galant und festlich, verspielt und unbekümmert präsentieren sich Andantino und Minué nicht nur in der Originalfassung, sondern auch in der im Konzert musizierten Bearbeitung von Werner Karlinger und Wolfgang Kreuzhuber für zwei Harfen und zwei Orgeln.
Antonio Soler (1729–1783): Concierto en sol mayor (Concerto III): Minué | Duo Virtuose Harfenisten | Rudigierorgel: Domorganist Wolfgang Kreuzhuber | Chororgel: Dommusikassistent Gerhard Raab
Überraschend!
Ein RAUMKLANG verlangt natürlich nach einer Improvisation von Domorganist Wolfgang Kreuzhuber: Seiner Lebenspartnerin, der Rudigierorgel, entlockte der Domorganist eine Woche nach Vollenden seines 40jährigen Dienstjubiläums im Dom eine zarte Improvisation im impressionistischen Stil, in der er Harfenmotive aufgriff und zwischen verschiedenen Klangfarben changierend verarbeitete.
Verträumt!
Impressionistisches schloss sich auch mit Claude Debussys Deux Danses, L 113 (103), von Werner Karlinger an der Harfe und Gerhard Raab an der Orgel an. Debussy, 1862 in Saint-Germain-en-Laye geboren und 1918 in Paris gestorben, gilt mit seiner Musik als Bindeglied zwischen Romantik und Moderne. Die Deux Danses für Harfe und Streichorchester entstanden im Frühling 1904 als Auftragswerk der Firma Pleyel, deren Chef Gustave Lyon um 1900 die harpe chromatique als Gegenstück zur Doppelpedalharfe der Firma Érard entwickelt hatte. Die Harfenkonstruktion verschwand bald wieder, die im November 1904 uraufgeführten Deux Danses, die der Etablierung der Pleyel-Harfe dienen sollten und Lyon gewidmet sind, blieben. Die zwei Tänze gehen nahtlos ineinander über und zeigen den Kontrast zwischen Geist und Körper, zwischen Himmel und Erde: Der Danse sacrée präsentiert sich geheimnisvoll und anmutig, zart schwebend und leuchtend, der Danse profane entpuppt sich als charmanter Walzer mit arpeggierenden Harfenfiguren und glanzvollen Kaskaden. Debussy verriet, dass er seinen „[…] musikalischen Traum mit der größten Gelassenheit niederschreiben“ (Zit. nach: Böhmer, Karl (o.A.): Claude Debussy: Zwei Tänze für Harfe. URL.)und seine „[…] innere Landschaft mit der naiven Arglosigkeit des Kindes singen“ (ebd.) möchte. Dies hat er mit der verträumten Atmosphäre seiner Harfentänze wohl erreicht, wie auch die Fassung für Harfe und Orgel von Werner Karlinger zeigt, die das Publikum im Dom verzauberte.
Spanisch!
Die Virtuosen Harfenisten unternahmen anschließend eine musikalische Reise nach Spanien. Isaac Albéniz, 1860 in Camprodón geboren, studierte ab 1868 an der Escuela Nacional de Música y Declamación in Madrid. Von dort aus unternahm er 1871 bis 1875 Konzertreisen durch Spanien und in die Karibik. Einem Intermezzo am Leipziger Konservatorium folgte ein Studium am Conservatoire Royal in Brüssel, das er 1879 mit einem Premier prix in Brassins Klavierklasse beendete. 1883 ließ er sich in Barcelona zum Kompositionsstudium bei Felipe Pedrell nieder, der ihn dazu animierte, spanische Volksmusik als Inspiration für seine Kompositionen zu nutzen. 1886 bis 1889 lebte der Pianist mit seiner Familie in Madrid, wo die Suite española, op. 47, für Klavier entstand, deren Sätze musikalische Erinnerungen an Städte und Regionen Spaniens darstellen und (auch in der Bearbeitung für Harfenduo von Werner Karlinger) auf originelle Weise den Klang Spaniens zum Leben erwecken. Auf der Höhe seiner technischen und interpretatorischen Fähigkeiten und anerkannt als einer der größten Pianisten seiner Zeit, lebte Albéniz ab 1890 in London und Paris und konzertierte in Großbritannien und auf dem Kontinent. In Frankreich unterhielt er Verbindungen zur bande à Franck. Isaac Albéniz‘ Verhältnis zur musikalischen Moderne darf als gespannt bezeichnet werden, doch den ihm persönlich bekannten Debussy schätzte der Spanier, der 1909 nach längerer Krankheit starb, sehr.
Instinktiv!
Klanggewaltiges folgte von Gerhard Raab an der Rudigierorgel mit Jehan Alains Première Fantaisie, JA 72. Alain, 1911 in eine Musikerfamilie hineingeboren, studierte von 1927 bis 1939 am Conservatoire de Paris, wo er in Harmonielehre, Kontrapunkt/Fuge sowie Orgel den Premier prix erhielt. Nach dem Militärdienst unterrichtete Jehan Alain zahlreiche Privatschüler:innen und wirkte ab 1935 als Organist an Saint-Nicolas in Maisons-Laffitte und der Synagoge der Rue Notre-Dame-de-Nazareth. Alains Orgelwerke, allesamt geprägt von visionärem Erfindungsreichtum in Bezug auf Klangpalette und Dynamik, entstanden zwischen 1929 und 1939. Den eigenen frühen Tod erahnte Alain nach dem tödlichen Bergunfall seiner Schwester Marie-Odile 1937 – tatsächlich fiel er im Sommer 1940 bei Petit-Puy. Alains Première Fantaisie spiegelt die Faszination für die Musik anderer Kulturkreise wider, die der Komponist im Zuge der Pariser Exposition coloniale internationale 1931 kennengelernt hatte. Auf dem 1933 verfassten und seinem Bruder Olivier gewidmeten Manuskript notierte Alain die französische Fassung eines Vierzeilers des persischen Dichters Omar Chayyām: „Schließlich rief ich zum Himmel selbst, um zu fragen, wie das Schicksal uns durch die Finsternis führen könne. Und der Himmel antwortete: ‚Folge deinem blinden Instinkt!‘“ (Les Rubaiyat 33) Mit leidenschaftlichem Gestus folgt Alains faszinierende und doch rätselhafte Komposition dieser poetischen Idee. Denn in Poesie, Kunst und Musik suchte Alain den schöpferischen Ausdruck, den er als „einzige Form des Glücks“ bezeichnete.
Meditativ!
Als Kontrast zu Alain wurden die Klänge mit Marcel Grandjanys Aria in Classic Style, op. 19, nahezu meditativ. Grandjany, 1891 in eine Pariser Musikerfamilie hineingeboren und mit vier Jahren Vollwaise, wurde 1900 in die Klavier- und Solfeggioklasse des Conservatoire de Paris aufgenommen; ab 1902 studierte er zusätzlich Harfe. 1905 erhielt er einen Premier prix „in Einstimmigkeit der Jury“, wofür er mit einer Érard-Harfe belohnt wurde. Seine angegriffene Gesundheit verschonte ihn vor aktivem Militärdienst während des Ersten Weltkriegs, er wurde zu administrativen Diensten verpflichtet und zum Organisten an der Basilika Sacré-Cœur de Montmartre bestellt. 1922 debütierte Grandjany als Harfenist in London, 1924 in New York. 1936 emigrierte er mit seiner Familie aufgrund des Nationalsozialismus in die USA, wo er 1938 die Leitung der Harfenklasse an der New Yorker Juilliard School of Music übernahm und bis zu seinem Tod 1975 behielt. Daneben errichtete der Begründer der American Harp Society eine Harfenklasse am Conservatoire de Musique in Montreal und an der Manhattan School of Music. Bei der Aria in Classic Stylehandelt es sich um eine meditative Komposition für Harfe und Orgel. Grandjanys Beherrschung von Harfe und Orgel verbindet die Klangfarben beider Instrumente zu einem wunderbaren Ganzen, sodass es zuweilen auch in der Interpretation von Martina Rifesser und Wolfgang Kreuzhuber unmöglich schien, diese voneinander zu unterscheiden.
Franckastisch!
Eine Verneigung vor César Franck, dessen Geburtstag sich 2022 zum 200. Mal jährt, durfte im HARFONISCHen RAUMKLANG natürlich auch nicht fehlen: Darum erklangen zwei Stücke aus den Pièces posthumes pour Harmonium ou Orgue à pédales pour l‘office ordinaire in einer Einrichtung für zwei Orgeln, die „franckastischen“ Dolby Surround-Klang in den Dom zauberten. Die Sammlung der zwischen 1858 und 1863 komponierten Stücke wurde 1905 von Francks Sohn Georges veröffentlicht. Entstanden waren diese, da ein Schüler César Franck um Anweisungen für das Spiel auf der Orgel seines Dorfes gebeten hatte. Père Franck lieferte ihm dafür nicht nur Tipps, sondern auch Kompositionen, zum Beispiel das im RAUMKLANG musizierte Grand Chœur, CFF 63, mit seinem klanggewaltigen, marschartigen Charakter oder das zurückhaltende, fast nachdenklich-traurige Quasi Marcia, CFF 61.
Erinnernd!
Eine musikalische Erinnerung von Alfred Holý musizierten Martina Rifesser an der Harfe und Wolfgang Kreuzhuber an der Orgel. Holý, 1866 in Oporto geboren, studierte in Prag, der Heimatstadt seines Vaters. 1896 erhielt der Virtuose einen Vertrag auf Lebenszeit als Kammermusiker an der Königlichen Hofoper in Berlin. Mit Franz Poenitz und Wilhelm Posse bildete er dort um die Jahrhundertwende das „Königstrio“ der Harfenwelt. 1903 folgte Holý dem lukrativen Ruf Mahlers an die Wiener Oper, wo er zum bestbezahlten Harfenisten der Welt wurde. Nach Mahlers Weggang übersiedelte er 1913 nach Boston, kehrte trotz seines hohen Ansehens in den USA aber 1928 – von Heimweh geplagt – nach Wien zurück. In Europa hatte er allerdings Schwierigkeiten, Fuß zu fassen und starb 1948 mittellos und entkräftet. Über seine Berliner Zeit erzählt Holý in seinen Memoiren: „My two colleagues were among the most famous harpists of their time. They had been brought into the Royal Orchestra by their teacher Grimm, who had been a pupil of Parish-Alvars. Since then the two had been united in a close friendship and I was proud to have become the third in their league. Poenitz was a mortal kissed by all possible muses: harp artist, harmonium virtuoso, composer, very talented pastel painter, and skilled in many sports [...].“ (deutsche Übersetzung: „Meine zwei Kollegen gehörten zu den berühmtesten Harfenisten ihrer Zeit. Sie waren von ihrem Lehrer Grimm in das Königliche Orchester gebracht worden. […] Grimm war ein Schüler von Parish Alvars. Von da an waren die beiden in enger Freundschaft verbunden und ich war stolz, der Dritte in ihrer Liga zu werden. […] Poenitz war von allen möglichen Musen geküsst: Harfenmeister, Harmoniumvirtuose, Komponist, sehr talentierter Pastellmaler und erfahren in vielen Sportarten [...].“ De Volt, Artiss (Hrsg.) (1985): Alfred Holý. Memoirs. New York: Lyra Music Company. S. 27.) Nach Poenitz‘ Tod 1912 widmete Holý seine Elegie, op. 17, für Harfe und Orgel dem Andenken seines Freundes.
Bezaubernd!
HARFONISCH vereinten sich zwei Harfen und zwei Orgeln zum Finale in Elias Parish Alvars‘ Concertino en re mineur, op. 91. Nach seiner Ausbildung arbeitete der 1808 in Devon als Eli Parish geborene Musiker in den 1820er-Jahren kurz in der Harfenwerkstatt Schwieso und Grosjean, wo er wohl eine Person „A. Alvars“ kennenlernte, deren Namen er später übernahm. Nach Konzertreisen durch Deutschland und Italien lebte er ab 1836 hauptsächlich in Wien, wo er mit Czerny Freundschaft schloss, bei Sechter Komposition studierte und als Solist am Hofoperntheater wirkte. Zurückgekehrt nach London unternahm er ab 1839 ausgedehnte Reisen in den östlichen Mittelmeerraum, bevor er 1847 wieder nach Wien übersiedelte, wo er schließlich 1849 starb. Parish Alvars war einer der ersten Harfenisten, der die Möglichkeiten der Doppelpedalharfe ausschöpfte und durch zahlreiche Innovationen Maßstäbe bei der Entwicklung der modernen Spieltechnik auf diesem Instrument setzte. Über den Harfenvirtuosen äußerte sich Hector Berlioz, der diesen in Dresden gehört hatte: „C’est le Liszt de la harpe ! [...] L’avantage inhérent aux nouvelles harpes, de pouvoir, au moyen du double mouvement des pédales, accorder deux cordes à l’unisson, lui a donné l’idée de combinaisons, qui, à les voir écrites, paraissent absolument inexécutables.“ (deutsche Übersetzung: „Er ist der Liszt der Harfe! […] Der Vorzug der neuen Harfen [...] brachte ihn auf Kombinationen, die, wenn man sie geschrieben sieht, absolut unausführbar erscheinen.“ Berlioz, Hector (1870): Mémoires. Paris: Michel Lévy Frères. S. 275.) Berlioz ist es auch, der in Parish Alvars einen Zauberer sah, in dessen Händen die Harfe zur Sirene wird, die „[…] unter seiner leidenschaftlichen Umarmung Musik aus einer anderen Welt hervorbringt“ (Original: „[...] qui exhale des sons fascinateurs d’un autre monde, sous l’étreinte passionnée de ses bras puissants.“ Ebd., S. 324.). Parish Alvars‘ Kompositionsschaffen bezieht sich in erster Linie auf sein Instrument, geprägt ist sein Stil dabei von der zeitgenössischen italienischen Oper und Mendelssohn Bartholdy. Sein in der Originalfassung für zwei Harfen oder Harfe und Klavier mit Orchester komponiertes Concertino entstand 1845. Beim RAUMKLANG erklangen Allegro brillante, Andante und Allegro brillante in einer Bearbeitung für zwei Harfen und zwei Orgeln von Werner Karlinger und Wolfgang Kreuzhuber. Ein absolut würdiges Finale für diesen HARFONISCHen Abend, den das ORGEL.SOMMER-Publikum mit stehenden Ovationen und lautstarkem Applaus belohnte!
Stefanie Petelin
Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin