UNTERWEGS bei der Langen Nacht der Kirchen 2021

„Reisen sollte nur ein Mensch, der sich ständig überraschen lassen will“ – mit diesen Worten von Schriftsteller Oskar Maria Graf begrüßte Christoph Niemand das Lange-Nacht-der-Kirchen-Publikum im Linzer Mariendom, das sich ab 19.15 Uhr eine knappe Stunde lang bei einer musikalisch-literarischen Reise von Musik und Texten aus ganz Europa überraschen lassen wollte.
Wolfgang Kreuzhubers musikalische Reise begann natürlich mitten in Linz – mit Karl Waldecks (1841–1905) Fantasie für große Orgel nach einem Thema von Anton Bruckner in g-Moll, WV I.1.4. Mit Kurt Tucholskys (190–1935) Gedanken über die Kunst des falschen und richtigen Reisens aus dem Jahr 1929 – immer noch beeindruckend aktuell – und Adolph Friedrich Hesses (1809–1863) Präludium und Fuge e-Moll, op. 37/4, machten Kreuzhuber und Niemand im Nachbarland Deutschland Station.
Über den Seeweg führte der Weg der musikalisch-literarischen Reise nach Großbritannien: Matthias Politycki (*1955) entführte mit seinem Text nach London, in dieser rast- und gnadenlosen Kapitale einen Ort suchend, an dem man – ähnlich wie in einem Wiener Kaffeehaus – bis ans Ende seiner Tage sitzenbleiben könnte. Ein solch entschleunigtes London präsentierte Kreuzhuber in William Boyces (1711–1779) Voluntary I in D.
Via Flugzeug reisten Pilot und Copilot weiter nach Frankreich – natürlich über den Kanal: Einer Reiseschilderung der amerikanischen Flugpionierin Harriet Quimby, die am 16. April 1912 allein den Kanal zwischen Dover und Boulogne-sur-Mer überquerte, folgte Louis James Alfred Lefébure-Welys (1817–1869) Marche in do majeur, der von der Opalküste ins Paris des 19. Jahrhunderts entführte. Noch weiter gen Süden führten Joseph Roths (1894–1939) Reiseeindrücke aus der Provence, in denen dieser die „weißen Städte“ beschreibt, von denen er bereits als Kind geträumt hatte: „Ich war neugierig, zu erfahren, wie es hinter dem Zaun aussieht, der uns umgibt. Hinter dem Zaun sind Ferien. Süße, lange Sommerferien. Niemand reguliert meinen Tag. Wenn ich ihn verliere, so ist es mein Tag gewesen. (Ein ‚Tagedieb‘! Wie deutsch ist dieses Wort! Wem gehören die Tage, die einer sich selbst gestohlen hat?) Ich habe die weißen Städte so wiedergefunden, wie ich sie in den Träumen gesehen hatte. Wenn man nur die Träume seiner Kindheit findet, ist man wieder ein Kind.“
Über die Grenze nach Spanien weitergereist machten die beiden Reisenden Kreuzhuber und Niemand Halt in der Kathedrale von Valencia – mit Juan Cabanilles‘ (1644–1712) Tiento de falsas 1° tono – bevor der Weg mit einer langen Schiffsreise durchs Mittelmeer nach Italien führte, wo Christoph Niemand mit einem Text von Elke Heidenreich (*1943) zauberhafte und doch ganz ungewohnte Einblicke in die Lagunenstadt Venedig gewährte. Als Gegenpart zu dieser Stadt, die „selbst im Karneval nie lustig ist“, zeigte Wolfgang Kreuzhuber mit Andrea Lucchesis (1741–1801) Sonate in F-Dur die heitere, die lebensfrohe Seite Italiens, la dolce vita.
Wolfgang Kreuzhuber (*1957): Impression „Unterwegs“ | Rudigierorgel: Domorganist Wolfgang Kreuzhuber
Zurück nach Österreich, in ihr „Wohnzimmer Mariendom“ kehrten Sprecher und Musiker mit einem Text von Alain de Botton (*1969), der Reisen als „Geburtshelfer von Gedanken“ betrachtet und dabei dem Reisen mit der Eisenbahn den Vorzug gibt, um letztlich zu erkennen: „Die häusliche Umgebung bindet uns an die Person, die wir im Alltagsleben sind und die sich dadurch unterscheiden kann von dem, was uns wirklich ausmacht.“ Wolfgang Kreuzhuber beschloss die musikalisch-literarische Reise mit einer Improvisation, einer Kunst, die ihn wirklich ausmacht: Und so konnte das Publikum im Mariendom noch einmal die Reiseeindrücke Revue passieren lassen, ganz im Sinne von Kurt Tucholsky: „Entspanne Dich. Laß das Steuer los. Trudele durch die Welt. Sie ist so schön: gib Dich ihr hin, und sie wird sich Dir geben.“
Fazit: Wolfgang Kreuzhuber und Christoph Niemand – ein kongeniales Dom-Duo, das mit Musik und Sprache perfekt umzugehen vermag. Wiederholung unbedingt erwünscht!
Stefanie Petelin
TheAndrasBarta/pixabay.com/CC0 1.0 (Vorschaubild), Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin