Orgelmusik aus dem 17. Jahrhundert
Selten gehörte Werke von Carl van der Hoeven (1580–1661), Johann Caspar Kerll (1627–1693) und Franz Tunder (1614/1615–1667) standen bei der ORGEL.LITURGIE an der Rudigierorgel auf dem Programm.
Johann Caspar Kerll – lange Zeit vergessen, endlich wieder entdeckt
Zum Einzug erklang Johann Caspar Kerlls Toccata VI. Zu Lebzeiten galt Kerll als bedeutender Virtuose auf dem Tasteninstrument, als ausgezeichneter Lehrer und als Meister der Komposition.
Johann Caspar Kerll (1627–1693): Toccata VI | Rudigierorgel: Dommusikassistent Gerhard Raab
Ein trauriges Schicksal ereilte dann den zu Lebzeiten so berühmten Komponisten: Johann Caspar Kerll (auch von Kerll, Kerl, Kherl, Kerle, Gherl) war ab Ende des 18. Jahrhunderts vergessen, bis er endlich im 20. Jahrhundert von der Musikwissenschaft wiederentdeckt wurde. Ein Großteil seines kirchenmusikalischen Schaffens und alle elf registrierten Opern Kerlls gelten allerdings als verloren.
Der Komponist wurde 1627 als Sohn des Orgelbauers und Organisten Caspar Kerll im vogtländischen Adorf geboren. Seinen ersten Orgelunterricht erhielt der junge Kerll wohl bei seinem Vater, bevor ihn seine Ausbildung durch den Habsburger Erzherzog Leopold Wilhelm nach Wien und Rom führte, wo er bei Giacomo Carissimi studierte. In seine Zeit in Wien oder Rom fällt wohl auch Kerlls Konversion zum römisch-katholischen Glauben, die eine wichtige Basis für seine Tätigkeit im süddeutschen und österreichischen Raum darstellte. Kerlls Weg führte nach München und Wien, wo er als Hoforganist, vermutlich auch als Organist am Stephansdom und als Lehrer für Tasteninstrumente arbeitete. Aufgrund der Kriegswirren des Jahres 1683 verbrachte Kerll die Zeit bis zu seinem Tod 1693 erneut in München, über diese Zeit ist allerdings wenig bekannt. Im Anhang zu seinem 1686 veröffentlichtem „Modulatio organica“ publizierte Kerll ein von ihm selbst angefertigtes Werkverzeichnis seiner Musik für Tasteninstrumente, das als einer der frühesten gedruckten Werkkataloge eines einzelnen Komponisten gilt. Kerlls Werke für Tasteninstrumente ragen aus seinem Gesamtwerk heraus – darin präsentiert Kerll eindrücklich seine virtuose und von italienischen Einflüssen geprägte Tonsprache.
Franz Tunder – ein „kluger Mann, fast allzu klug“
Zur Gabenbereitung musizierte Dommusikassistent Gerhard Raab Franz Tunders Canzon in G. Mit einem Praeludium in F aus dessen Feder beschloss Raab auch den Gottesdienst.
Ein kleiner Blick auf Leben und Werk des norddeutschen Komponisten: Franz Tunder wurde 1614 oder 1615 – vermutlich in Lübeck – geboren. Sein Vater gleichen Namens betrieb ab 1599 einen Buchladen nahe der Lübecker Marienkirche. Über Tunders Ausbildung existieren keine gesicherten Kenntnisse: Möglicherweise erhielt er seinen ersten Orgelunterricht bei Marienorganist Peter Hasse (um1575–1640), der der Sweelinck-Schule nahestand. Sollte er mit 14 oder 15 Jahren wirklich als „Scholare musicus“ in Kopenhagen gewesen sein, wie ein nicht mehr auffindbarer Akt des Pastorats Bannesdorf aus dem Jahr 1632 vermerkt, hätte er in Dänemark die Möglichkeit gehabt, bedeutenden Organisten zu begegnen – von Melchior Borchgrevinck (um 1569–1632) über Melchior Schildt (1592/1593–1667) bis hin zu Johan Lorentz (um 1610–1689). Tunder könnte sich ob der schwierigen Ausbildungsverhältnisse während des Kriegs auch direkt nach Hamburg gewandt haben, um dort bei den Sweelinck-Schülern Jacob Praetorius (1586–1651) und Heinrich Scheidemann (um 1594–1663) sein Orgelspiel zu vervollkommnen. Eine langwährende Freundschaft mit Matthias Weckmann (um 1616–1674), ab 1633 Praetorius‘ Schüler, könnte diese Annahme unterstützen. 1632 wurde Tunder Organist am Hof des Herzogs Friedrich III. in Gottorf, wo er bei Orgelbauer Johann Hecklauer vermutlich einiges über den Orgelbau gelernt haben dürfte. Ins Jahr 1640 fällt seine Hochzeit mit der Tochter des ehemaligen Hofschneiders Voigt. 1641 wechselte Tunder nach Lübeck, wo er auf bedeutende Musiker traf, die bereits in Gottorf gastiert hatten, u.a. den Lautenisten Paul Bruhns, Nicolaus Bruhns' Großvater. Vor seinem Amtsantritt war die noch von Peter Hasse beauftragte große Orgel von Orgelbauer Friedrich Stellwagen eingeweiht worden, in Tunders Amtszeit fällt die ebenfalls von Stellwagen ausgeführte Reparatur der kleinen Orgel der Marienkirche. Der Orgelbauer charakterisierte den Organisten und Werckmeister (Kirchenrechner) Tunder als „klugen Mann, fast allzu klug“. Auf seinen beiden Instrumenten des norddeutschen Orgelbarock etablierte Tunder, der in Lübeck auch pädagogisch tätig war, bald schon die abendlichen Musikdarbietungen, die später zu den berühmten Lübecker Abendmusiken wurden. 1667 wurde Tunder von Fieber befallen, von dem er sich nur langsam erholte. Tunder starb an einem weiteren Fieberanfall im November desselben Jahres. Zu seinem Nachfolger wurde 1668 Dieterich Buxtehude gewählt. Tunder steht damit in der norddeutschen Orgelmusik zwischen der Sweelinck-Schule und den beiden Organisten Dieterich Buxtehude und Johann Adam Reincken.
Franz Tunders Orgelwerk besteht aus neun Choralbearbeitungen, vier Präludien (und dem Fragment eines fünften), von denen eines im Gottesdienst erklang, und der ebenfalls im Rahmen der ORGEL.LITURGIE musizierten Canzon. In dieser zweiteiligen Canzon – überliefert in Thomas Ihres Tabulaturbuch – werden italienische Einflüsse deutlich. Vermutlich kam Tunder auf indirektem Weg mit der italienischen Orgelmusik in Berührung. Tunders Präludien hingegen folgen einem Grundplan, der auch noch gelegentlich bei Buxtehude vorkommt: Auf eine freie Einleitung folgt eine ausgedehnte Fuge über ein beibehaltenes Thema, die letztlich in eine kurze Coda mündet.
Carl van der Hoeven – über fünfzig Jahre im Dienste Salzburgs
Zur Kommunion erklang von der Rudigierorgel Carl van der Hoevens Ricercar primo Quarti toni. Bei Carl van der Hoevens erhaltenen Ricercari, in die toccatenähnliche Abschnitte eingefügt sind, handelt es sich um interessante Kompositionen, deren kühner Stil und reiche Ornamentik keinesfalls einem Kopisten zugeschrieben werden können.
Über Leben und Werk des Komponisten ist nicht viel bekannt: Carl van der Hoeven (auch Houven, Hoffen, Houen, Howen) wurde 1580 in Nürnberg geboren. Musikunterricht genoss der Nürnberger entweder bei Hans Leo Hassler oder dessen Bruder Kaspar. Ab 1606 wirkte Carl van der Hoeven am Hofe von Graf Georg von Zollern im baden-württembergischen Hechingen. 1609 wechselte er als Kammer- bzw. Hoforganist an den Hof Salzburgs, wo er schließlich 1661 starb.
Stefanie Petelin
Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin