Gerhard Raab schickt NORDISCHE GRÜSSE
Lübeck – nordisch nobel
Dommusikassistent Gerhard Raab eröffnete seine MUSIK AM MITTAG mit einem Gruß aus dem Norden von einem „oft unterschätzten Komponisten“, wie der junge Musiker im Vorfeld im ORGELSOMMER-Interview verriet – mit dem Praeludium ex d, LübWV 11, von Vincent Lübeck.
Vincent Lübeck spielte aufgrund seiner langen Lebenszeit in der norddeutschen Orgelkultur des 17. und 18. Jahrhunderts eine bedeutsame Rolle. Drei Städte von wirtschaftlicher, kultureller und politischer Bedeutung standen mit Lübecks Leben und Werk in Verbindung: Flensburg, Stade und Hamburg. Vincent Lübecks Vater war zunächst als Organist an der Schlosskirche in Glückstadt an der Elbe tätig, bevor er ab 1647 an die Marienkirche im damals zu Dänemark gehörenden Flensburg wechselte, wo er vermutlich vor der Geburt seines Sohnes starb. Unklar ist bis heute, warum Lübecks Mutter nach dem Tod ihres Mannes nach Padingbüttel bei Bremerhaven zog – denn dort wurde Vincent Lübeck 1654 geboren. Ein Jahr später kehrte Mutter Lübeck nach Flensburg zurück und heiratete Caspar Förckelrath, den Nachfolger ihres verstorbenen Mannes an der Marienkirche. Vincent Lübeck erhielt von seinem Stiefvater an dieser Kirche mit ihrer dreimanualigen, norddeutsch geprägten Orgel seine musikalische Ausbildung. Im Alter von 20 Jahren wurde der junge Lübeck Organist an der von Berendt Hus und Arp Schnitger neu erbauten Orgel in der Kirche St. Cosmae in Stade. Von diesem Ort im damals zu Schweden gehörenden Land zwischen Weser- und Elbemündung aus wirkte er in den folgenden 28 Jahren als Organist und Komponist, als Orgellehrer und Orgelsachverständiger. In seiner Funktion als Orgelsachverständiger nahm er gemeinsam mit Christian Flor und Andreas Kneller Schnitgers größte Orgeln in Hamburg-St. Nikolai (1687) und Hamburg-St. Jacobi (1693) ab. Lübecks Wechsel an die Hamburger Nikolaikirche im Jahr 1702 führte ihn zu seinem dritten Wirkungsort: Die Schnitger-Orgel war damals mit ihren 67 Registern auf vier Manualen und Pedal nicht nur die größte Orgel Hamburgs, sondern die größte Orgel der Welt. Johann Mattheson vermerkte über Lübeck im Anhang von Friedrich Erhardt Niedts „Musicalischer Handleitung Anderer Theil“ von 1721: „Diese ungemeine Orgel ist Anno 1686 von Arp Schnittker verfertiget und hat auch einen ungemeinen Organisten. Was soll man aber von einem genug=berühmten Mann viel Rühmens machen; Ich darff nur Vincent Lübeck nennen, so ist der ganze Panegyricus fertig.“ Sein Amt an St. Nikolai hatte Lübeck bis 1734 inne, nach seinem Tod 1740 übernahm sein Sohn, Vincent Lübeck der Jüngere, seine Stelle als Organist an der Hamburger Kirche.
Wie bei seinen Zeitgenossen Bruhns, Buxtehude oder Reincken sind von Lübeck keine Autographe seiner Werke für Tasteninstrumente erhalten. Wesentlich für die Überlieferung von Lübecks freien Orgelwerken war der Notenbestand in der Hamburger Nikolaikirche – sein Werk liegt in Abschriften aus seinem Schülerkreis vor. Bemerkenswert dabei ist, dass es keine Doppelüberlieferung gleicher Stücke in verschiedenen Handschriften gibt und damit alle Werke als Unika überliefert sind.
Jungwirth – mittelalterlich modern
Eine besondere Verbindung hat Dommusikassistent Gerhard Raab zum nächsten musizierten Werk im Rahmen der NORDISCHEN GRÜSSE. Denn Rudolf Jungwirths 2017 entstandene und bislang nur als Manuskript vorliegende Choralfantasie „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ hat Gerhard Raab nicht nur am 9. Juni 2017 in der Stadtpfarrkirche Linz uraufgeführt, sondern sein komponierender Lehrer an der Anton Bruckner Privatuniversität Linz hat es ihm auch gewidmet.
In dieser Choralfantasie thematisiert Jungwirth – anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 – ein Lied Luthers, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in der katholischen Kirche Bekanntheit erlangte. Die Choralfantasie des 1955 in Linz geborenen Komponisten und Pädagogen ist in die drei Teile Introduction, Estampie und Epilog gegliedert – zwei zerklüftete Rahmenteile umschließen den tänzerisch-energiegeladenen Hauptteil, wobei in allen drei Teilen der Choral eher als Material denn als Erkennungszeichen fungiert.
Gade – dänisch dynamisch
Niels Wilhelm Gades Moderato, der erste Satz aus dessen „Drei Tonstücken“, op. 22, beschloss Raabs MUSIK AM MITTAG. Das Moderato verarbeitet dabei zwei Themen nach Art des klassischen Sonatensatzes.
Niels Wilhelm Gade (1817-1890): Drei Tonstücke, op. 22: I. Moderato | Rudigierorgel: Dommusikassistent Gerhard Raab
Die Stücke waren, so verrät der 1817 geborene Gade 1851 in einem Brief an Clara Schumann, zunächst Teil einer viersätzigen Orgelsonate. Gade strich dann aus unbekannten Gründen einen Satz dieser Komposition, transponierte zwei andere und publizierte die drei verbliebenen Sätze 1852 schließlich bei Breitkopf & Härtel in Leipzig als „Tre Tonestykker“. Möglicherweise scheute Gade den Vergleich mit den sechs 1845 erschienenen Orgelsonaten Mendelssohn Bartholdys. Denkbar wäre auch, dass er sich von der Dreiergruppierung ohne explizite zyklische Verbindung eine größere Verbreitung des Werks versprach.
Was auch immer Gade dazu bewegte: Heute zählen diese drei Stücke, die dem Komponisten und Organisten Johann Peter Emilius Hartmann (gleichzeitig Gades Schwiegervater!) gewidmet sind, zu dessen Hauptwerk für die Orgel, das bald über Dänemark hinaus großes Interesse fand. Obwohl der Däne bereits als Zwanzigjähriger vertretungsweise als Organist an der Vor Frue Kirke in Kopenhagen tätig war, er 1851 zum Organisten an der Garnisonskirche ernannt wurde und ab 1858 schließlich an der Holmenskirche wirkte, umfasst sein Œuvre für Orgel nur wenige Werke. An seinem letzten Wirkungsort als Organist ließ er das bestehende Instrument 1865 durch ein mehr dem romantischen Stil verpflichtetes Instrument von Daniel Köhne, einem Schüler Cavaillé-Colls ersetzen. Bis zu seinem Tod 1890 amtierte Gade dort als Organist. Allerdings verhinderte eine Renovierung über viele Jahre den Zugang Gades zur Orgel – und damit möglicherweise auch eine größere Entfaltung Gades als Komponist von Orgelwerken.
Gades Beziehung zu Leipzig überrascht dabei nicht: Gade lebte von 1843 bis 1848, unterstützt von einem königlichen Stipendium, in Leipzig, wo er sich mit Robert Schumann und Felix Mendelssohn Bartholdy anfreundete, die ihn förderten und unterstützten. Letzterer ermöglichte ihm die Uraufführungen einiger seiner Werke im renommierten Leipziger Gewandhaus und machte ihn zu seinem Assistenten. Nach Mendelssohns plötzlichem Tod übertrug man ihm sogar die Leitung des Gewandhausorchesters. Doch schon ein Jahr später (1848) kehrte er mit Ausbruch des Ersten Schleswig-Holsteinischen Krieges zurück nach Kopenhagen, wo er zu einer prägenden Persönlichkeit des dänischen Musiklebens des 19. Jahrhunderts wurde: Er übernahm 1850 nicht nur die Leitung des Kopenhagener Musikvereins (Musikforeningen) und wirkte ab 1861 als Hofkapellmeister, sondern begründetet 1867 gemeinsam mit dem Widmungsträger der „Drei Tonstücke“ auch das Königlich Dänische Musikkonservatorium (Københavns Musikkonservatorium, ab 1902: Det Kongelige Danske Musikkonservatorium) in Kopenhagen, das er bis zu seinem Tod 1890 leitete.
Mit seinen NORDISCHEN GRÜSSEN im Mariendom Linz begeisterte der junge Kirchenmusiker Gerhard Raab am Abschluss des ORGELSOMMERS das Publikum – Applaus!
Stefanie Petelin
Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin