ORGELSOMMER: VIERNE VARIATIONS mit Ben van Oosten
Mit den VIERNE VARIATIONS bot der preisgekrönte niederländische Orgelvirtuose Ben van Oosten – an den Registern der Rudigierorgel bestens unterstützt von seiner Frau Margaret Roest, der vermutlich besten Registrantin der Welt – eine faszinierende Hommage an den Jubilar Louis Vierne.
Louis Vierne wurde am 8. Oktober 1870 in Poitiers geboren. Obwohl von Geburt an nahezu blind war der Franzose ein unvergleichlicher Virtuose und Improvisator. Ab 1900 wirkte er als Organist an der Cavaillé-Coll-Orgel der Kathedrale Notre-Dame de Paris. Vierne starb auch an dieser Orgel – während eines Konzerts am 2. Juni 1937.
Vierne als Improvisator
Der aus Den Haag stammende Ben van Oosten stellte Louis Vierne zur Eröffnung zunächst als faszinierenden Improvisator vor: Mit dem pompösen „Marche épiscopale“ und der poetisch-expressiven „Méditation“ aus den „Trois Improvisations“ aus den Jahren 1929 und 1930 präsentierte der Niederländer an der Rudigierorgel Viernes improvisatorisches Können. Rekonstruiert wurden die von der Firma Odéon auf Schallplatten aufgenommenen Improvisationen durch Maurice Duruflé, der sie 1954 als Huldigung an seinen Lehrer Vierne publizierte.
Vierne als Komponist
Aus den 1926 und 1927 entstandenen „Vingt-quatre pièces de fantaisie“ musizierte Ben van Oosten drei Stücke, die Viernes Facettenreichtum und Farbenvielfalt als Komponist widerspiegeln: die schwunghafte „Hymne au soleil“ („Hymne an die Sonne“), op. 53/3, aus der „Deuxième suite“, die elegante „Aubade“ („Morgenständchen“), op. 55/1, aus der „Quatrième suite“ und das erhabene „Carillon de Westminster“ („Glockenspiel von Westminster“), op. 54/6, aus der „Troisième suite“. Die 24 Fantasiestücke – bestehend aus vier Suiten mit jeweils sechs Stücken – sind dabei durch die 12 Durtonarten und 12 Molltonarten komponiert und vermögen zudem, alle klanglichen Möglichkeiten einer großen Orgel zu präsentieren. Und genau das tat Ben van Oosten mit diesen drei Konzertstücken auf beeindruckende Weise, wie die Hörprobe wunderbar zeigt:
Louis Vierne: Vingt-quatre pièces de fantaisie en quatre suites: Quatrième suite: I. Aubade, op. 55 | Rudigierorgel: Ben van Oosten
Das auf den Ausschnitt aus den Fantasiestücken folgende Werk sorgte beim Interpreten wie beim Auditorium im Linzer Mariendom für Gänsehautmomente, berührt das Stück doch nicht nur musikalisch – sondern auch durch seine außergewöhnliche Geschichte: Das zarte, rührende „Stèle pour un enfant défunt“ („Grabmal für ein verstorbenes Kind”) aus dem „Triptyque“, op. 58, dessen Bestandteile zunächst als Einzelwerke komponiert wurden und erst 1936 gemeinsam veröffentlicht wurden, schrieb Louis Vierne anlässlich des Todes des kleinen Jean de Brancion. Vierne bemerkt selbst dazu: „Als alter Freund der Familie war ich von seinem tragischen Ableben tief betroffen. Als eine Art von Votivgabe zu seiner Erinnerung wollte ich alle konventionellen Trauerfloskeln vermeiden; es gab nichts, was meine Trauer hätte ausdrücken können, nur den Ausdruck von Traurigkeit durch ein visionäres Gedicht; dies war es, was ich auszudrücken versuchte.“ Und genau dieses Stück war es, das Vierne im Konzert vom 2. Juli 1937 in Notre-Dame spielte – es war das letzte Werk, das Vierne in seinem Leben musizierte, wie sein Schüler Maurice Duruflé berichtet: „Als er den letzten Satz des Triptyque begann, wurde er blaß, seine Finger hingen förmlich an den Tasten und als er seine Hände nach dem Schlußakkord abhob, brach er auf der Orgelbank zusammen: Ein Gehirnschlag hatte ihn getroffen.“ Vierne starb noch am Spieltisch seiner geliebten Cavaillé-Coll-Orgel. Wie Ben van Oosten im ORGELSOMMER-Interview veraten hatte, berührt ihn diese Geschichte immer wieder aufs Neue und macht für ihn „jede Aufführung dieses Stückes zu einem Moment tiefer Emotion“.
Vierne als Bearbeiter
In van Oostens Hommage fand auch Viernes Leistung als Arrangeur durch die Klänge einer Orgelfassung des berühmten Rachmaninoffschen Prélude in cis-Moll Würdigung. Vierne bearbeitete Sergei Rachmaninoffs Klavierstück aus dem Jahr 1932 für die Orgel und bestimmte die Transkription für eine große symphonische Orgel. Die Klangeffekte, die der niederländische Orgelvirtuose Ben van Oosten der Rudigierorgel entlockte, verliehen dem bekannten Klavierstück eine völlig neue Dimension.
Vierne als Orgelsymphoniker
Zum Finale präsentierte der letztjährige OPUS KLASSIK-Gewinner einen Höhepunkt der französischen Orgelliteratur: Nach César Franck und Charles-Marie Widor hatte Louis Vierne die symphonische Orgeltradition Frankreichs ins 20. Jahrhundert und zu einem Höhepunkt geführt. Seine sechs Orgelsymphonien – entstanden zwischen 1899 und 1930, komponiert in aufsteigenden Tonarten – sind sowohl von der Architektur Notre-Dames als auch von den Cavaillé-Coll-Orgeln mit ihren orchestralen Klangmöglichkeiten inspiriert.
Bei der dem amerikanischen Organisten Lynnwood Farnam gewidmeten „Sixième Symphonie en si mineur“ handelt es sich um Viernes letztes großes Werk. Es entstand im Sommer 1930 in Menton an der Côte d’Azur – die mediterrane Umgebung ist es wohl auch, die Vierne stimmungsmäßig beeinflusste, wie sein Biograph Bernard Gavoty festhielt: „Er komponierte diese Symphonie im Angesicht des Meeres, des gleißenden Sonnenscheins, berauscht von der zauberhaften Atmosphäre des Mittelmeeres, vollständig durchdrungen vom Geist des Romanischen, vom zarten Duft des nahen Strandes; so kehrte er an sein Notenpapier zurück, begleitet vom Spiel der Wellen.“
Die von Ben van Oosten meisterhaft gespielte Komposition ist in zyklischer Form komponiert – zwei Basisthemen beherrschen in verschiedenen Gestalten das Werk, das mit einer aufgeregten Introduction samt resolutem Allegro beginnt. Die daran schließende lyrische Aria setzt einen starken Kontrast zum darauffolgenden nahezu diabolischen Scherzo. Edle, poetisch-lyrische Klänge schlägt schließlich das Adagio an, bevor mit dem stürmischen Final in Rondo-Form der Schlusspunkt der prächtigen Orgelsymphonie gesetzt wird. Ben van Oosten bewies mit der Interpretation von Viernes sechster Symphonie einmal mehr seinen Rang als Koryphäe für französische Orgelmusik.
Van Oosten als Orgelvirtuose
Nach den mächtigen Schlussakkorden des Final aus der sechsten Symphonie brandete für den Meister der französischen Orgelmusik auf einen kurzen Augenblick der Stille lautstarker Applaus des ORGELSOMMER-Publikums mit Standing Ovations auf. Unter den begeisterten Zuhörerinnen und Zuhörern wurden Bischof Manfred Scheuer, Bischofsvikar Johann Hintermaier, Jägerstätter-Biographin Erna Putz sowie Kirchenmusikreferent Andreas Peterl und die evangelische Diözesankantorin Franziska Leuschner gesichtet. Neben Brett Leighton, dem scheidenden Orgelprofessor der Anton Bruckner Privatuniversität Linz, hatten auch zahlreiche junge Organistinnen und Organisten den Weg in den Mariendom gefunden, um Ausnahmekünstler Ben van Oosten bei seinen VIERNE VARIATIONS an der Rudigierorgel zu lauschen.
Domorganist Wolfgang Kreuzhuber, als Obmann des Dommusikvereins Linz Veranstalter der ORGELSOMMER-Konzertreihe, die nächste Woche ins Finale geht, zeigte sich im Anschluss an das Konzert ebenfalls fasziniert: „Ben van Oosten hat Klangfarben aus der Rudigierorgel geholt, die man in dieser Kombination wohl noch nie von ihr gehört hat … sie klang so ausgesprochen charmant, so bunt, so farbig … es war einfach ein wunderschönes Konzert … und letztlich kann man bei Ben van Oosten und seinen Konzerten eigentlich immer nur in Superlativen denken ... unglaublich!“ Wenn das so ist, dann darf man vielleicht nach BONJOUR, MONSIEUR BACH 2019 und den VIERNE VARIATIONS 2020 auf ein baldiges Wiedersehen mit dem sympathischen Niederländer in Linz hoffen – sind bekanntlich nicht aller guten Dinge drei?
Stefanie Petelin
Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin
4. September 2020