Andreas und Rita Peterls LEIPZIGER LEBEN
Dem musikalischen Ehepaar – Andreas Peterl an der Orgel und Rita Peterl mit ihrer Stimme – gelang es bei seinem halbstündigen Konzert, die größte Kirche Österreichs mit Klängen zu erfüllen, die man bei Bach vielleicht dereinst in der Thomaskirche gehört hatte und die bei Mendelssohn möglicherweise in der Paulinerkirche zu vernehmen waren. LEIPZIGER MusikLEBEN – mitten in Linz.
Bach – instrumental
Andreas Peterl eröffnete die MUSIK AM MITTAG an der Rudigierorgel mit Johann Sebastian Bachs Pièce d’Orgue, BWV 572, einem Werk, das geprägt ist von der Beschäftigung des Komponisten mit der Tradition französischer Orgelmusik. Das aus Bachs Weimarer Zeit stammende Werk zählt zu seinen bekanntesten und meistgespielten Orgelwerken – es besticht durch originelle Frische, zielstrebigen Duktus und eine meisterhafte Gesamtdisposition. Überliefert ist die Komposition, bestehend aus drei stark kontrastierenden, aber in enger Beziehung zueinander stehenden Teilen, in zwei Fassungen – bei der Frühfassung handelt es sich um eine Abschrift von Johann Gottfried Walther aus dem Jahr 1712 (Weimar), die zweite Fassung entstand in den späten 1720er-Jahren in Leipzig. Walther, ein entfernter Verwandter Bachs, ist es auch, der in seinem „Musicalischen Lexikon“ von 1732 eine Definition des in der deutschen Barockmusik selten verwendeten Begriffs „Pièce“ publiziert: „Pièce […] wird hauptsächlich von Instrumentalsachen gebraucht, deren etliche als Teile ein ganzes Stück zusammen konstituieren.“
Der erste Teil, ein Manualsolo im 12/8-Takt, enthält in der Frühfassung noch keine Tempobezeichnung, in der Endfassung ist er mit „Très vitement“ („Sehr schnell“) überschrieben. Der zweite Teil wird – nach dem Ende des ersten Teils am hohen fis‘‘ – mit einem überraschenden Pedaleinsatz auf dem Grundton G eröffnet. In der Frühfassung ist er mit der Spielanweisung „Gayement“ („Fröhlich und schnell“) überschrieben, die Endfassung gibt hingegen „Gravement“ („Langsam und getragen“) vor. In Verbindung mit den einsetzenden Manualstimmen entsteht ein fünfstimmiger Satz im Alla-breve-Takt, der auf französische Vorbilder (im Sinne eines „Grand jeu“) zurückgeht und sich durch harmonische Kühnheit auszeichnet. Originell und ungewöhnlich sind die 157 Takte mit dem überraschenden Endeffekt, einem abrupten Trugschluss auf einem verminderten Septakkord. Auf eine dramatische Generalpause folgt der dritte Teil – in der Frühfassung mit „Lentement“ überschrieben, in der Endfassung ohne Tempobezeichnung. Er besteht aus arpeggierenden Manualläufen in Zweiunddreißigstel-Sextolen, untermalt von chromatisch absinkenden Pedaltönen, die in ein Orgelpunkt-Ostinato auf D münden, bevor die Schlusskadenz zum ersehnten G-Dur zurückführt.
Mendelssohn – vokal und instrumental
Aus Felix Mendelssohn Bartholdys Instrumentalwerk musizierte Andreas Peterl die Sonate Nr. 4 in B-Dur, op. 65/4 (MWV SD 56). Sein Werk markiert einen wesentlichen Wendepunkt in der Geschichte der Orgelmusik. Nach Bachs Tod 1750 ist Mendelssohn der erste Komponist von internationalem Rang, der sich wieder ernsthaft mit der Königin der Instrumente auseinandersetzt. Mendelssohn hatte 1844 auf Drängen englischer Orgelfreunde eine Serie von 24 Orgelstücken – auch unter Verwendung älteren Materials – komponiert. Geplant waren diese Stücke zunächst als „a kind of organ-school“, ein didaktisches Werk im Sinne eines „Orgel-Büchleins“ von Mendelssohn. Coventry & Hollier, der englische Verleger Mendelssohns, schlug schließlich vor, die 24 Stücke zu mehrsätzigen „Voluntaries“ zusammenfassen – doch diese Bezeichnung fand bei Mendelssohn keinen Anklang und so überarbeitete er die Stücke nochmals, ordnete sie neu und kündigte sie 1845 seinem deutschen Verleger Breitkopf & Härtel als sechs Sonaten an – in einem Brief vom 10. April 1845 schreibt er dazu: „Das Werk für Orgel, wovon ich Ihnen zu Anfang des Winters sprach, habe ich nun beendigt, es ist aber größer geworden, als ich früher selbst gedacht hatte. Es sind nämlich 6 Sonaten, in denen ich meine Art die Orgel zu behandeln und für dieselbe zu denken niederzuschreiben versucht habe. Deswegen möchte ich nun gern, daß sie als ein Werk herauskämen.“ Veröffentlicht wurden die sechs Sonaten, die nicht der klassischen Sonate in Sonatensatzform entsprechen, sondern den Versuch, Form- und Gestaltungselemente weiterzuentwickeln, darstellen, schließlich am 15. September 1845. Die von Andreas Peterl gespielte Sonate Nr. 4 – bestehend aus dem improvisatorisch anmutenden Allegro con brio, dem liedhaften Andante religioso, dem empfindungsreichen Allegretto und dem prägnanten Allegro maestoso e vivace – entstand als letzte der sechs Sonaten. Für diese Sonate lassen sich durchaus motivische Bezüge zwischen den vier Sätzen herstellen.
In Bachs Pièce d’orgue und Mendelssohns Sonate Nr. 4 betteten Andreas und Rita Peterl zwei geistliche Lieder aus der Feder des gebürtigen Hamburgers Mendelssohn ein – das Arioso „Doch der Herr, er leitet die Irrenden recht“ und die Arie „Der du die Menschen lässest sterben“.
Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847): Zwei geistliche Lieder, op. 112/2 (MWV SD 56): 2. „Der du die Menschen lässest sterben“ (Arie) | Rudigierorgel: Andreas Peterl | Gesang: Rita Peterl
Bei den beiden Gesängen für hohe Stimme handelt es sich um Psalmvertonungen – das Arioso bezieht sich auf Psalm 25,9.12b–13a, die Arie auf Psalm 90, 3.5.6. Die zwei Sologesänge hatte Mendelssohn ursprünglich für sein zwischen 1832 und 1836 entstandenes Oratorium (nach Worten der Heiligen Schrift) „Paulus“, op. 36, vorgesehen, sie aber im Zuge der Vollendung des Werks nicht mehr berücksichtigt. Zehn Sätze des Oratoriums, also in etwa ein Viertel, nahm Mendelssohn wieder aus dem Werk heraus oder arbeitete sie um – nach der Uraufführung arbeitete Mendelssohn das Werk erneut um. Im Zuge der Drucklegung des Erstdrucks 1837 bei Simrock in Bonn nahm der Komponist die beiden Lieder wieder aus dem Oratorium heraus – vermutlich aus dramaturgischen Gründen. „Der du die Menschen lässest sterben“ folgte ursprünglich als Arioso auf den Choral „Dir Herr, dir will ich mich ergeben“ nach dem Begräbnis des Stephanus. „Doch der Herr, er leitet die Irrenden recht“ wurde als Alt-Arioso nach dem Rezitativ gesungen, bevor Saulus auf dem Weg nach Damaskus erblindet. Ersetzt wurde dieses Arioso durch die Vertonung von „Doch der Herr vergisst die Seinen nicht“. 1840, vier Jahre nach der Uraufführung des „Paulus“ spielte Mendelssohn Ignaz Moscheles alle aussortierten Sätze vor, worauf dieser bemerkte, dass sie vielleicht passender als einzelne Stücke im Konzertsaal seinen als in Verbindung mit dem Oratorium. Und so erschienen die beiden Arien viele Jahre später (1886) unter dem Titel „Zwei geistliche Lieder“ als Opus 112 bei Simrock in Bonn.
Das ORGELSOMMER-Publikum zeigte sich von der musikalischen Begegnung Bachs mit Mendelssohn bei dem kleinen musikalischen Ausflug nach Leipzig begeistert und belohnte Andreas und Rita Peterl auf der Orgelempore mit kräftigem Applaus.
Stefanie Petelin
Dommusikverein Linz/Gerhard Raab