Maria Helfgotts EUROPÄISCHE BEGEGNUNGEN
Mit einem Stück voll unglaublicher Kraft und Brillanz eröffnete Maria Helfgott ihre MUSIK AM MITTAG: Johann Sebastian Bachs Fantasie und Fuge in g-Moll, BWV 542.
Johann Sebastian Bachs Satzpaar – kunstvoll und grenzensprengend
Johann Sebastian Bach schrieb seine freien, also nicht choralgebundenen Orgelwerke, zumeist in Form von Satzpaaren: Einer klar geordneten, strengen Fuge stellte er ein freies, quasi improvisatorisches Stück voran, das er mit Präludium, Toccata oder – wie im Falle von BWV 542 – Fantasie überschrieb.
Die Fuge feiert in diesem Jahr wohl ihren 300. Geburtstag, denn die Fuge wird auf das Jahr 1720 datiert. Man nimmt an, dass Bach sie anlässlich seiner Bewerbung um die Organistenstelle an der Arp-Schnitger-Orgel in St. Jacobi in Hamburg improvisierte und später zu Papier brachte. Möglicherweise verneigte sich Bach in der Wahl des Themas der Fuge mit Bezug auf das niederländische Volkslied „Ik ben gegroet van“ vor dem Niederländer Johann Adam Reincken, der an der Katharinenkirche in Hamburg wirkte und bei Bachs Probespiel wie der Magistrat und zahlreiche Honoratioren der Stadt zugegen war. Bach wollte mit dieser Fuge, die bald als sein „allerbestes Pedalstück“ galt, offenbar zeigen, was er konnte. Auch wenn Bach seine Bewerbung aufgrund finanzieller Konditionen wieder zurückzog – seine kunstvolle Fuge landete nicht im Papierkorb, sondern er komponierte eine beeindruckende Fantasie im stylus phantasticus hinzu, die alle bisherigen harmonischen Grenzen sprengte.
Johann Sebastian Bach (1685–1750): Fantasie in g-Moll, BWV 542/1 | Rudigierorgel: Maria Helfgott
Im Gegensatz zu Bachs Stück, das in seinen wohl „glücklichsten“ Jahren als Kapellmeister am Köthener Hof von 1717 bis 1723 entstand, fällt die Entstehungszeit des in der MUSIK AM MITTAG folgenden Stücks aus der Feder von Paul Hindemith in einen schmerzvollen Lebensabschnitt des Komponisten.
Paul Hindemiths Sonate – innig und eindringlich
Maria Helfgott musizierte im Anschluss Paul Hindemiths 1940 entstandene Sonate III für Orgel nach alten Volksliedern, die er „Frank Boyzan in friendship“ widmete. Die zitierten Volkslieder nennt Hindemith dabei bereits in den Überschriften der drei Sätze „Ach Gott, wem soll ich’s klagen“, „Wach auf, mein Hort“ und „So wünsch ich ihr ein gute Nacht“.
Die Texte der drei Volkslieder spiegeln offenbar seine innersten Empfindungen wider – sie beschreiben den Trennungsschmerz des einsamen Liebenden. Denn Hindemith hatte im Februar 1940 Europa verlassen, um in Amerika eine neue Existenz aufzubauen. Seine Frau Gertrud hingegen weilte noch in der Schweiz. Ursprünglich hätte sie ihrem Mann wenige Wochen später nach New York folgen sollen, doch wegen der Kriegsentwicklungen hatten einige Reedereien den Schiffsverkehr nach Amerika eingestellt, sodass Gertrud zwischen Italien, Portugal und der Schweiz hin und her pendelte. Mit der ständigen Ungewissheit über das Schicksal seiner Frau musste Hindemith seiner neuen Lehrtätigkeit in den USA nachkommen – sie traf erst im September 1940 in der nie schlafenden Stadt ein.
Das Konzept des Zugrundelegens von alten deutschen Volksliedern hatte Hindemith bereits vorab in Werken angewandt. Dahinter verbirgt sich die Idee, das „Alte“, das für ihn noch nicht veraltet war, in „neuem“ Gewand wieder präsent zu machen. Die Volkslieder als vorgegebenes Motiv bzw. Thema dienten als Gerüst für ausschmückende Kontrapunkte und zwangen ihn gleichzeitig zu formaler Disziplin.
Die drei Sätze sind gekennzeichnet durch Hindemiths eigene, modale Tonsprache, die keineswegs einfach ist, doch ins Ohr eindringt, um im Herzen weiterzuwirken: Melodische Einfälle und harmonische Färbungen sorgen für emotionale Tiefenwirkung – das war auch im Linzer Mariendom bei Maria Helfgotts Interpretation der drei Sätze deutlich spürbar.
Louis Viernes Final – wirkungsvoll und aufbrausend
Mit Louis Viernes berühmtem Final, dem sechsten und letzten Satz seiner Première Symphonie, op. 14, beschloss Maria Helfgott ihre MUSIK AM MITTAG.
Die Gattung der Orgelsymphonie nimmt in Viernes Schaffen eine zentrale Stellung ein. Und es ist Louis Vierne, der mit seinen monumentalen Orgelsymphonien die Gattung zu ihrem Höhepunkt in der Entwicklung der symphonischen Orgelliteratur führte.
Die Zeit, die der Veröffentlichung der ersten Symphonie unmittelbar vorausging, zählt – eine kleine Parallele zu Bachs Fantasie und Fuge – zu den glücklichsten Jahren im Leben des Komponisten. Viernes erste Orgelsymphonie entstand zwischen 1895 und 1899 – die Cavaillé-Coll-Orgel von 1862 der großen Pariser Kirche Saint-Sulpice hatte Vierne zu der Komposition inspiriert. Sie ist Viernes Freund und Mentor Alexandre Guilmant zugeeignet.
Guilmant hatte 1896 bei seiner Übernahme der Orgelklasse von Charles-Marie Widor am Conservatoire de Paris dafür gesorgt, dass Louis Vierne Assistent bleiben durfte. Und Vierne wurde 1902 auch Guilmants Nachfolger als Organist an Notre-Dame de Paris. Guilmant war es auch, der Viernes Première Symphonie in einem kleinen Kreis im Palais du Trocadéro in Paris vorspielte. Auch Charles-Marie Widor soll zur Hochzeit Viernes mit der Sängerin Arlette Taskin in Saint-Sulpice am 22. April 1899 Ausschnitte aus der Premiere Symphonie vorgetragen haben.
Bei Helfgotts musiziertem Satz handelt es sich um ein heroisch anmutendes Finale mit donnernder Pedalmelodie und gebrochenen Akkordfigurationen in den Händen. Dass die ersten Töne der Pedalmelodie dabei identisch mit jenen der Marseillaise sind, mag dabei rein zufällig sein, andererseits bezeichnet Vierne selbst das Final als „seine Marseillaise“.
Dies unterstreicht auch eine Anekdote von Jean-Pierre Plichon, dessen Frau bei Vierne studiert hatte, er verrät in „Les vacances de Louis Vierne (1934–1936)“ im Rahmen der Publikation „In memoriam Louis Vierne“ (Paris, 1939) mehr über die Interpretation des Stückes: „Vierne hat die letzten drei Sommer seines Lebens zwischen einem kleinen amerikanischen Radio, einem Klavier und der Orgel der Kirche Saint-Vaast bei meinen Eltern in Bailleul (Nordfrankreich) verbracht. Er rauchte tagtäglich ohne Umschweife das Paket Zigaretten, das mein Vater ihm jeden Morgen überreichte. [...] Das englische Radio übertrug oft seine ‚Sinfonien‘ und brachte mit Vorliebe das ‚Final‘ der Ersten, welches er als ‚seine Marseillaise‘ bezeichnete. Eines Abends wählte der Londoner Organist ein so schnelles Tempo, dass Vierne sichtbar ein paar Minuten darunter litt. Als alles vollendet war, sagte ich zu ihm: ‚Ich werde diesem Organisten schreiben und ihn bitten, die angezeigten Tempi zu respektieren.‘ ‚Tun Sie das bloß nicht‘, antwortete er, ‚er wird dann nichts mehr von mir spielen … Und letztendlich sind vielleicht meine Tempoanweisungen nicht ganz zutreffend ...‘“
Auch wenn sich Vierne selbst viele Jahre später recht kritisch über den musikalischen Gehalt seiner ersten Symphonie äußerte und das Final als „pompier“, also „banal“, bezeichnete – die MUSIK AM MITTAG strafte diese Einschätzung Lügen: Maria Helfgott sorgte mit Viernes Komposition für einen fantastischen Schlusspunkt als Finale für eine kontrastreiche, farbenfrohe und verzaubernde MUSIK AM MITTAG mit EUROPÄISCHEN BEGEGNUNGEN!
Und so bestätigte die sympathische Künstlerin mit ihrem Orgelspiel, was sie im Vorfeld im ORGELSOMMER-Interview verraten hatte: „Orgelspielen bedeutet für mich, das Leben in vollen Klängen zu genießen.“ Das spürte man ganz deutlich ... darum gab's begeisterten Beifall der MUSIK AM MITTAG-Fangemeinde für diese musikalischen Darbietungen!
Stefanie Petelin
Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin