Nikita Gassers FRANZÖSISCHE ELEGANCE
Der gebürtig aus Südtirol stammende Organist Nikita Gasser, der seit 2018 als Stiftsorganist im Stift Schlägl tätig ist, begann seine MUSIK AM MITTAG am 2. August 2020 um 10.45 Uhr im Mariendom Linz mit einer Komposition von Louis Marchand, die perfekt das Konzertmotto FRANZÖSISCHE ELEGANCE widerspiegelte.
Louis Marchand – Reißaus vor Bach
Marchand wurde 1669 als Sohn eines Organisten in Lyon geboren. Bereits mit 14 Jahren soll er Organist der Kathedrale von Nevers gewesen sein. Ab 1691 war Marchand an der Jesuitenkirche in der Rue St Jacques, an St Benoît, bei den Cordeliers und im Kloster Saint-Honoré in Paris tätig, 1708 wurde er zu einem der vier Organisten der königlichen Kapelle in Versailles ernannt. 1713 machte er sich zu einer Reise durch Deutschland auf, wo er seine Improvisationskunst vor Fürsten, Königen und sogar vor dem Kaiser präsentierte – 1717 soll er sich bei seinem Aufenthalt in Dresden einem musikalischen Wettstreit mit Johann Sebastian Bach durch Flucht entzogen haben. Nichtsdestotrotz wurde er bei seiner Rückkehr nach Paris mit offenen Armen empfangen. Bis zu seinem Tod 1732 wirkte er als Organist bei den Cordeliers und als Lehrer. Marchand war ein überragender Orgelvirtuose, aber laut Überlieferungen auch ein schwieriger Charakter, was zeitlebens für Skandale sorgte. Von Marchands kompositorischem Schaffen ist trotz seines Ruhms zu Lebzeiten nur wenig erhalten – darunter befinden sich Cembalostücke, Orgelwerke und einige Vokalkompositionen. Mit dem Grand Dialogue du 5e Ton von 1696 aus Louis Marchands „Troisième Livre d'orgue“ musizierte Gasser an der Rudigierorgel eines von Marchands bekanntesten und brillantesten Stücken und sorgte für klassische französische Orgelklänge.
Französisches präsentiert Gasser auch mit zwei Werken aus der Feder von Jehan Alain, die beide 1935 komponiert wurden: Prélude, JA 75, und Fugue, JA 57. Wie Jehan Alains Schwester Marie-Claire kombinierte auch Gasser die beiden Einzelstücke und fügte sie zu einem Stück zusammen.
Jehan Alain – facettenreiche Klangwelten
Jehan Alain wurde 1911 in Saint-Germain-en-Laye geboren. Schon seit Vater war als Organist und Komponist (sowie als Orgelbauer) tätig – studiert hatte er bei Alexandre Guilmant und Louis Vierne. Diese musikalischen Gene erbten auch Jehans Geschwister Marie-Odile (1914–1937), Olivier (1918–1994) und Marie-Claire (1926–2013). Seinen ersten Orgelunterricht erhielt Jehan Alain an der viermanualigen Hausorgel im Wohnzimmer seiner Familie. Bereits im Alter von dreizehn Jahren vertrat er seinen Vater als Organist an der Kirche seines Heimatortes. 1927 bis 1939 studierte Alain am Conservatoire National Superieur in Paris, wo er erste Preise in Fuge, Harmonielehre, Improvisation, Kontrapunkt und Orgel erhielt. 1935 ernannte man ihn zum Organisten an St. Nicolas de Maisons-Laffitte, daneben spielte er regelmäßig im Temple Israëlite, der Synagoge der Rue Notre-Dame-de-Nazareth, wo 1938 die einzige bekannte Tonaufnahme von ihm, eine sechsminütige Orgelimprovisation, gemacht wurde. Nach Kriegsbeginn 1939 wurde Alain zum Kriegsdienst einberufen – er fiel 1940 in einem Gefecht bei Saumur, zwei Tage vor dem Waffenstillstand in Compiègne. Alains Kompositionen sind einerseits von der musikalischen Sprache Debussys und Messiaens beeinflusst, andererseits entdeckt man auch Bezüge zu fernöstlicher Musik, Tanz, Philosophie oder Jazz. Mehr als 140 Kompositionen umfasst Alains Werkverzeichnis.
Jehan Alain (1911–1940): Prélude, JA 75 | Rudigierorgel: Nikita Gasser
Auch wenn Lionel Rogg, der Komponist des dritten Werkes, nicht aus Frankreich, sondern der Schweiz stammt – seine sechssätzigen Variations sur le psaume 91 stehen kompositorisch in der Tradition der französischen Suite.
Lionel Rogg – humorvoll-augenzwinkernder Schweizer
Lionel Rogg wurde 1936 in Genf geboren. Er studierte von 1948 bis 1958 Orgel bei Pierre Segond und Klavier bei Nikita Magalogg am Conservatoire de musique de Genève. An dieser Bildungseinrichtung lehrte er selbst ab 1960 bis zum Jahr 2002 als Professor. Daneben unterrichtete er Literatur und Improvisation an der Royal Academy of Music in London und der Scuola Civica in Mailand. Seit 1993 ist er Titularorganist der Victoria Hall Genf. Dort erregte Rogg 1961 Aufsehen, als er das gesamte Orgelwerk Johann Sebastian Bachs an zehn Abenden zum Besten gab. 1983 begann er im Zuge eines Kompositionsauftrages zum 150. Geburtstag des Genfer Konservatoriums regelmäßig zu komponieren. Der humorvoll-augenzwinkernde Rogg zieht in seinen Kompositionen dabei stets alle Register – visionäre kompositorische Einfälle und musikalische Überraschungen prägen sein Werk. Die Variations sur le Psaume 91 des gefragten Konzertorganisten, Komponisten und Pädagogen entstanden 1983. Nikita Gasser hatte das Werk bereits im ORGELSOMMER-Interview im Vorfeld als „eine herrliche Symbiose aus musikalischer Tradition und der Gegenwart, thematisch, formal und klanglich, mit rhythmischer Prägnanz, vielen Freiheiten und improvisatorischen Zügen“ beschrieben.
Für seine virtuose und farbenreiche MUSIK AM MITTAG zur Eröffnung des ORGELSOMMERs 2020 im Mariendom erntete der Schlägler Stiftsorganist lautstarken Applaus des Konzertpublikums – einfach formidable!
Stefanie Petelin
Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin