ORGEL.SOMMER: RAUMKLANG | SAX IN THE CITY
Zartes und Kräftiges
Mit Michael Nymans (*1944) „Song for Tony“ – geschrieben 1993 in Erinnerung an Tony Simons, den an Krebs verstorbenen Freund und Manager des Komponisten – eröffnete das Saxophonensemble der Anton Bruckner Privatuniversität Linz unter der Leitung von Peter Rohrsdorfer den RAUMKLANG unter dem Motto SAX IN THE CITY auf berührende Weise und erfüllten den Mariendom Linz mit vielschichtigen Klängen. Das Quartett, bestehend aus Viktoria Köppl, Noah Kunze, Clemens Redl und Lisa Felbermayer am solistisch agierenden Altsaxophon, entführte mit seinen Tönen in die musikalische Gefühlswelt des Komponisten. Werke aus der Feder des Engländers, der weithin für seine Filmmusik bekannt ist, nehmen als Ausgangspunkt gerne Musik von Komponisten wie Biber, Dowland, Mozart, Purcell oder Webern – dabei kombiniert Nyman bevorzugt musikgeschichtliche Zitate mit avantgardistischen Formen und Eingängigkeit.
Im Anschluss daran beeindruckte Domorganist Wolfgang Kreuzhuber (*1957) mit einer freien Improvisation an der Rudigierorgel, die er in Form einer Fantasie farbenprächtig gestaltete. Seine ganz besondere Beziehung zur Rudigierorgel goss er dabei in die Orgelimprovisation, wie nachzuhören ist:
Wolfgang Kreuzhuber (*1957): Freie Improvisation | Rudigierorgel: Domorganist Wolfgang Kreuzhuber
Heiteres und Triumphales
Domenico Scarlattis (1685–1757) von spanischer Volksmusik inspirierte Klaviersonate in E-Dur, K. 380, schloss in einem Arrangement für Saxophonensemble von Olaf Mühlenhardt an die mächtigen Orgelklänge an. In Scarlattis Komposition gehen polyphone Geläufigkeit und musikalische Sinnenfreude eine wunderbare Verbindung ein, sodass irgendjemand einmal über Scarlattis Klaviersonaten scherzte: „Bachs Präludien machen Urlaub am Mittelmeer ...“ Und genau dieses Gefühl vermittelte das Saxophonensemble mit den klassisch-heiteren Klängen.
In einer Bearbeitung für zwei Orgeln musizierten Domorganist Wolfgang Kreuzhuber an der Rudigierorgel und Dommusikassistent Gerhard Raab an der Chororgel Sigfrid Karg-Elerts (1877–1933) romantische Choralimprovisation in Form eines Marche triomphale über „Nun danket alle Gott“. Gewandhausorganist Paul Homeyer ermutigte den gebürtig aus Oberndorf am Neckar stammenden und ab 1882 in Leipzig lebenden Komponisten zu Orgelbearbeitungen seiner Harmoniumstücke, bevor er 1909 mit seinem Opus 65 – den 66 Choralimprovisationen – den Grundstein für sein umfangreiches und beeindruckendes Orgelwerk legte. Und beeindruckend waren Karg-Elerts Klänge im Dom allemal – majestätisch-triumphale Klänge von vorne und von hinten sorgten für Dolby Surround in der Kathedrale.
Barockes und Südamerikanisches
Barock bewegt wurde es wieder mit Georg Friedrich Händels (1685–1759) Triosonate in B-Dur, im Original geschrieben für zwei Oboen und Basso continuo – zu hören war das Werk mit der Nummer 380 im Händelschen Werkverzeichnis in einer Bearbeitung für Saxophone und Orgeln von Himie Voxman und Richard Hervig. Zwei Saxophonisten (Peter Rohrsdorfer und Moritz Reitter) neben Gerhard Raab an der Chororgel lieferten sich ein musikalisches Duett mit zwei Saxophonistinnen (Lisa Felbermayer, Viktoria Köppl) neben Wolfgang Kreuzhuber an der Rudigierorgel in den luftigen Höhen der rund zwölf Meter hohen Orgelempore.
In eine faszinierende südamerikanische Klangwelt entführte das Saxophonensemble der Anton Bruckner Privatuniversität Linz mit Marlene Schaumberger am Sopransaxophon mit Heitor Villa-Lobos‘ (1887–1959) Aria aus den „Bachianas Brasileiras No. 5“ (Bearbeitung: Frank J. Bongiorno) – Villa-Lobos „brasilianisierte“ darin die bachischen Klänge, indem er bachische Züge mit der Volksmusik Brasiliens verband. Für den Komponisten war es mehr als ein kapriziöser Einfall, die Melodien Brasiliens mit den Formen Bachs zu verknüpfen – zum einen hatte er zwischen beiden Musikstilen trotz enormer geographischer Entfernung Gemeinsamkeiten entdeckt, zum anderen brachte er mit den „Bachianas Brasileiras“ seine Verehrung für die Musik Johann Sebastian Bachs zum Ausdruck. Spannendes Detail am Rande: Nach seiner Entdeckung struktureller Gemeinsamkeiten zwischen der Musik Bachs und der Musik Brasiliens hatte Villa-Lobos ein Experiment mit den Straßenmusikern Brasiliens durchgeführt und festgestellt, dass für sie die Musik Johann Sebastian Bachs eine vollkommen natürliche, unkomplizierte Angelegenheit darstellte. Diese Erkenntnisse brachten ihn Anfang der 1930er-Jahre nach seiner Rückkehr aus Paris auf die Idee, den neunteiligen Zyklus zu verfassen. Die „Bachianas Brasileiras No. 5“ zählt heute wohl zum bekanntesten Werk des Zyklus – und so erklangen im Dom sehnsüchtige Melodien mit bachischen Vorhaltdissonanzen, frisch und farbenreich, energiegeladen und magisch. Vielleicht ganz im Sinne der „Saudade“, dem portugiesischen Wort für „Sehnsucht“ ...
Fröhliches und Trauriges
Ein fröhliches Orgelwerk – bearbeitet für zwei Orgeln – präsentierten schließlich Dommusikassistent Gerhard Raab an der Rudigierorgel und Wolfgang Kreuzhuber an der Chororgel mit Camille Saint-Saëns‘ (1835–1921) „Allegro giocoso“ aus dessen „Sept improvisations“. Die Sammlung gibt eine Kostprobe aus dem umfangreichen, aber selten gespieltem Orgelwerk des Franzosen – das Werk besticht durch hohe französische Improvisationskunst. Entstanden ist das Eugène Gigout gewidmete Charakterstück zwischen Dezember 1916 und Februar 1917, als Saint-Saëns mit einer Bronchitis ans Bett gefesselt war. Die siebte Improvisation des am 25. März 1917 im Théâtre des Nations in Marseille uraufgeführten Zyklus verdient durch ihre Virtuosität, ihre Eigenwilligkeit und ihr weites harmonisches Vokabular Beachtung.
Camille Saint-Saëns (1835–1921): Sept improvisations, op. 150: 7. Allegro giocoso (Bearbeitung: Wolfgang Kreuzhuber und Gerhard Raab) | Rudigierorgel: Dommusikassistent Gerhard Raab | Chororgel: Domorganist Wolfgang Kreuzhuber
Bei „A Song for Japan“ aus der Feder des belgischen Posaunisten Komponisten Steven Verhelst (*1981), das ein Quartett des Saxophonensembles der Anton Bruckner Privatuniversität Linz (Marlene Schaumberger, Viktoria Köppl, Noah Kunze, Clemens Redl) interpretierte, handelt es sich um eine Komposition, die anlässlich der Erdbeben- und Tsunamikatastrophe 2011 in Japan entstand. Im Zuge des Projekts „A Song for Japan“ komponierten und arrangierten angesichts der unfassbaren Tragödie mehrere Komponisten, die sich mit Japan verbunden fühlten, Stücke, um für Tote wie Überlebende in Japan zu beten und ihrer Schicksale durch Musik zu gedenken. Diese Stimmung wurde auch im Linzer Mariendom mit Verhelsts Stück in einem Arrangement für Saxophonquartett von Tetsuya Watanabe hör- und spürbar.
Außergewöhnliches und Raffiniertes
Felix Mendelssohn Bartholdys (1809–1847) erster Satz (Allegro) aus seiner Sonate Nr. 1 in f-Moll, MWV W 56, erklang in einer ganz besonderen Fassung für zwei Orgeln und Saxophonensemble. Domorganist Wolfgang Kreuzhuber und Dommusikassistent Gerhard Raab hatte die erste aus der am 15. September 1845 publizierten Sammlung von sechs Orgelsonaten, die heute zum Kernrepertoire der Orgelmusik zählen, eigens dafür bearbeitet. Während Gerhard Raab an der Rudigierorgel und Wolfgang Kreuzhuber an der Rudigierorgel das Hauptthema musizierten, übernahm das Saxophonensemble der Anton Bruckner Privatuniversität Linz das Thema des Chorals „Was mein Gott will, das g’scheh allzeit“. Das außergewöhnliche Arrangement bewies einmal mehr, wie wunderbar die Instrumente Orgel und Saxophon – übrigens das Instrument des Jahres 2019 – miteinander harmonieren.
Mit „Maï“ folgte zeitgenössische Musik aus der Feder des Japaners Ryō Nodas (*1948), eine raffinierte Originalkomposition für Solosaxophon aus dem Jahr 1975. Das Werk basiert übrigens auf einem Gedicht, das sich mit einer Seeschlacht, beschrieben in der epischen Dichtung „Heike Monogatari“ über die Vorherrschaft im Japan Ende des 12. Jahrhunderts, auseinandersetzt. Peter Rohrsdorfer rezitierte vor der Interpretation des Werkes den zugehörigen, ins Deutsche übertragenen Text „Die Schlacht des Meeres – An meine Frau“. Die zeitgenössische Komposition des japanischen Saxophonisten und Komponisten erklang dabei aus drei Seiten des Domes – während Viktoria Köppl und Noah Kunze im Seitenschiff musizierten, ertönten Clemens Redls Klänge aus der Mitte des Längsschiffes. Das kurze Innehalten nach dem letzten Ton zeigte das Publikum als berührt und bewegt.
Klagendes und Jazziges
Bei den „Litanies“ – interpretiert von Dommusikassistent Gerhard Raab an der Rudigierorgel – aus dem Jahr 1937 handelt es sich wohl um Jehan Alains (1911–1940) berühmtestes Orgelwerk. Zur Zeit der Komposition im Sommer 1937 befand sich Alain in einer tiefen Krise, gebeutelt von zahlreichen Schicksalsschlägen – seine Frau hatte eine Fehlgeburt erlitten und er selbst litt unter Angstträumen. Drei Wochen nach Vollendung der Komposition hat er dem Madame Virginie Schildge-Bianchini gewidmeten Werk darum folgende Gedanken angesichts des Todes seiner Schwester Marie-Odile bei einem Bergunfall vorangestellt: „Quand l’âme chrétienne ne trouve plus de mots nouveaux dans la détresse pour implorer la miséricorde de Dieu, elle répète sans cesse la même invocation avec une foi véhémente. La raison atteint sa limite. Seule la foi poursuit son ascension.“ (Übersetzung: „Wenn die christliche Seele in ihrer Verzweiflung keine Worte mehr findet, um die Barmherzigkeit Gottes zu erflehen, so wiederholt sie in ungestümem Glauben unaufhörlich das gleiche Bittgebet. Die Vernunft erreicht ihre Grenze. Der Glaube, ganz allein, setzt seinen Aufstieg weiter fort.“)[1] Das sich dramatisch steigernde Stück, das mit „Argentière, St Germain en Laye, 15. August 1937“ signiert ist und am 17. Februar 1938 von Alain an der Orgel von La Trinité in Paris uraufgeführt wurde, führt nahezu in rauschhafte Ekstase – Jehan Alain bemerkte dazu selbst in einem Brief: „Ein Gebet ist keine Klage, sondern ein Tornado, der alles, was sich ihm in den Weg stellt, hinwegfegt ... Wenn man am Ende nicht völlig erschöpft ist, hat man das Stück weder richtig verstanden, noch so gespielt, wie ich es mir vorstelle.“ (Original: „La prière, ce n'est pas une plainte, c'est une bourrasque irrésistible qui renverse tout sur son passage. C'est aussi une obsession: il faut en mettre plein les oreilles des hommes ... et du Bon Dieu ! Si, à la fin, tu ne te sens pas fourbu, c'est que tu n'auras ni compris ni joué comme je le veux.“)[2] Und Gerhard Raab konnte nach dem RAUMKLANG bestätigen, dass auch er nach Alains „Litanies“ erschöpft war – denn nicht nur die linke Hand ist ab Takt 58 äußerst schwierigen Passagen ausgesetzt ...
Zum Finale des Raumklangs erklang George Gershwins (1898–1937) Jazzstandard „Oh, Lady Be Good!“ aus dem Jahr 1924 in einer spritzigen Fassung für Saxophonensemble aus der Feder des Hamburger Saxophonisten Ulrich Sthamer. Vor dieser Feelgood-Music aus dem Broadway-Musical „Lady, Be Good“ bedankte sich Peter Rohrsdorfer im Namen der Saxophonklasse für die Einladung durch Domorganist Wolfgang Kreuzhuber und sein Team.
George Gershwin (1898–1937): Oh, Lady Be Good! (Arrangement: Ulrich Sthamer) | Saxophonensemble der Anton Bruckner Privatuniversität Linz (Leitung: Peter Rohrsdorfer)
(Mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Sthamer | Bestellung der Noten beim Exklusiv-Noten Musikverlag)
Mehr Impressionen vom Konzert gibt's in der Bildergalerie zum RAUMKLANG | SAX IN THE CITY
Tango Nuevo trifft Gospelsong
Schon bei seinem Dank vor dem finalen Stück hatte Rohrsdorfer dem Publikum verraten: „Ich sag’s Ihnen im Vertrauen, wir haben auch noch was mit im Gepäck!“ – Und der tosende Applaus des Publikums hätte das Saxophonensemble der Anton Bruckner Privatuniversität als Gäste der beiden Organisten sicher auch nicht ohne Zugabe gehen lassen. Und so musizierte das Saxophonensemble als Zugabe Nummer Eins eine Saxophonbearbeitung von Astor Piazollas „Close Your Eyes and Listen“ und als Zugabe Nummer Zwei „Oh Happy Day“ in einem Arrangement von Hermann Miesbauer. Ganz besonders begeisterte das Publikum dabei, dass die Saxophonistinnen und Saxophonisten sich während des Stückes zwischen den Zuhörerinnen und Zuhörer bewegten, sodass das Konzert mit RAUMKLANG pur endete.
Großen Applaus gab es am Ende eines leisen und lauten, eines heiteren und nachdenklichen, eines klassischen und jazzigen, eines traditionellen und modernen, eines in jeglicher Hinsicht vielseitigen Konzertabends für die zwei Gastgeber Wolfgang Kreuzhuber und Gerhard Raab sowie für die Gäste, das Saxophonensemble der Anton Bruckner Privatuniversität unter der Leitung von Peter Rohrsdorfer. Wenn das nicht der perfekte Abschluss des ORGEL.SOMMERs im Jubiläumsjahr der Rudigierorgel war ...
Anmerkungen:
[1] Alain, Jehan (1937): Litanies, JA 119.
[2] Zit. nach: Alain, Marie-Claire / Martello, Nicolas (o.A.): Litanies – Analyse. URL: https://www.edmu.fr/2012/09/litanies-analyse.html [Stand: 09/2019]
Stefanie Petelin
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8. September 2019