Andre Stepien gedenkt mit NIE WIEDER!
Der gebürtige Pole Andre Stepien nahm die achtzigste Wiederkehr des Überfalls auf Polen durch die deutschen Truppen am 1. September 1939, der den Beginn des zweiten Weltkriegs markiert, zum Anlass, um an dieses traurige Ereignis der Weltgeschichte zu erinnern und der zahlreichen Opfer dieses Krieges musikalisch zu gedenken. Stepiens MUSIK AM MITTAG an der Rudigierorgel unter dem Motto NIE WIEDER! darf daher auch als musikalischer Aufruf zu Frieden in der Gegenwart und in der Zukunft verstanden werden.
Expressiv-anklagender Górecki
Mit der Kantata, op. 26, aus der Feder des polnischen Komponisten Henryk Mikołaj Górecki (1933–2010) eröffnete Stepien sein Konzert. Geboren in der Nähe von Rybnik und aufgewachsen in Oberschlesien, gilt Górecki als Vorläufer der polnischen Avantgarde der späten 1950er-Jahre. Górecki arbeitete mit großer Entschlossenheit daran, seine eigene kompositorische Stimme zu entwickeln, indem er Techniken von Vorgängern und Zeitgenossen aufgriff und konsequent alle Elemente ausblendete, die seinem persönlichen Ausdruck fremd waren. So erzählte er später in einem Interview: „Composing is a terribly personal matter: the overcoming of difficulties, gaining knowledge, deciding upon a certain order, a certain method of constructing a new piece. This is important. You have to chose your way, you have to pick a proper path from an infinite number of possibilities.“ (Übersetzung; „Das Komponieren ist eine schrecklich persönliche Angelegenheit: die Überwindung von Schwierigkeiten, der Erwerb von Wissen, die Entscheidung über eine bestimmte Reihenfolge, eine bestimmte Methode, ein neues Stück zu konstruieren. Das ist wichtig. Du musst Deinen Weg wählen, Du musst einen richtigen Weg aus einer unendlichen Anzahl von Möglichkeiten wählen.“)[1]
Góreckis radikalste und dissonanteste kompositorische Phase umfasst die späten 1960er-Jahre, in denen auch die Kantata, op. 26, entstand – genaugenommen komponierte er diese 1968, im Weihejahr der Rudigierorgel. Gemeinsam mit Penderecki, Serocki und einigen anderen entwickelte Górecki ein Muster für neue Musik, das – salopp gesagt – vorsah: Je mehr Dissonanzen und je härter der Klang, desto besser. Diese mit der polnischen Avantgarde der 1960er-Jahre verbundene Kompositionstechnik wird auch als „Klangmassenkomposition“ („sound mass composition“) bzw. „sonoristische Komposition“ („sonoristic composition“ bzw. „Sonoryzm“) bezeichnet. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 wurde Góreckis Œuvre auch im Ausland bekannter.
Góreckis Herkunft aus einem kulturellen Schmelztiegel – mit polnischen, tschechischen und deutschen Elementen – spielte wohl eine bedeutende Rolle für seine musikalische Entwicklung, auch wenn er selbst in einem Interview am 18. Juli 1997 in Zakopane diesen Aspekt in den Hintergrund rückte: „Why do I like Czech music? Where does my knowledge and liking of German and Austrian music come from? Why do I worship Mozart, Schumann, Schubert, Brahms, Beethoven, Bach? [...] Why am I enamored with Szymanowski and Chopin? Why did I grow up with them? Because at the beginning of my musical education, when I had no idea about music ... these names were always near me: Beethoven, Chopin, Szymanowski. ... Does one need to consider it in a special way, does one need to think much about this? I do not think so. ... Nobody chooses their time and place of birth.“ (Übersetzung: „Warum mag ich tschechische Musik? Woher kommen meine Kenntnisse und Vorlieben für deutsche und österreichische Musik? Warum verehre ich Mozart, Schumann, Schubert, Brahms, Beethoven, Bach? [...] Warum bin ich verliebt in Szymanowski und Chopin? Warum bin ich mit ihnen aufgewachsen? Denn zu Beginn meiner musikalischen Ausbildung, als ich keine Ahnung von Musik hatte, waren diese Namen immer in meiner Nähe: Beethoven, Chopin, Szymanowski. ... Muss man das in besonderer Weise bedenken, muss man viel darüber nachdenken? Ich glaube nicht. . . Niemand wählt seinen Zeit und Ort seiner Geburt.“)[2]
Romantisch-fantasievoller Surzyński
Im Anschluss an Góreckis expressives und nahezu verstörendes Werk musizierte Stepien den zweiten Satz („Élégie“) aus Mieczysław Surzyńskis (1866–1924) Fantasia in A-Dur, op. 30. Der in Środa Wielkopolska geborene Organist und Komponist entstammte einer Musikerfamilie – sowohl sein Vater als auch seine drei Brüder waren als Organisten tätig. Nach Studien in Berlin, Leipzig und Regensburg ließ er sich schließlich in Posen nieder, wo er als künstlerischer Leiter der Musikalischen Gesellschaft und als Organist an der Kathedrale wirkte. Weitere musikalische Lebensstationen waren das lettische Liepāja, Sankt Petersburg, Saratow, Kiew und Warschau, wo er als Chordirigent der Warschauer Philharmonie, als Professor für Orgel und Kontrapunkt an der Musikhochschule sowie Organist an der Johanneskathedrale war und bis zu seinem Tod lebte. Kompositorisch trat Surzyński vornehmlich mit romantischen Orgelwerken hervor, zu denen auch das im Konzert interpretierte Charakterstück zählt.
Mieczysław Surzyński (1866–1924): Fantasia in A-Dur, op. 30: II. Élégie | Rudigierorgel: Andre Stepien
Trauernd-klagender Chopin
Romantische Klänge schlug Stepien auch mit zwei Préludes aus der Feder von Frédéric Chopin (1810–1849) an. Das Lento assai in h-Moll sowie das Largo in c-Moll entstammen dem zwischen 1836 und 1839 komponierten Klavierzyklus, den 24 Préludes, op. 28, dessen französische Erstausgabe Chopins Freund, Verleger und Konzertveranstalter Camille Pleyel gewidmet ist. Stepien musizierte eine Bearbeitung für Orgel von Stanisław Kisza. Der als Fryderyk Franciscek Chopin in Żelazowa Wola im Herzogtum Warschau als Sohn eines Franzosen und einer Polin geborene Komponist erhielt seine musikalische Ausbildung in Warschau. Seine ersten zwanzig Lebensjahre verbrachte der Wunderknabe in Polen, aus beruflichen und politischen Gründen verbrachte er den Rest seines Lebens überwiegend in Frankreich. Chopins Leben war geprägt von Krankheit, sodass er zuletzt mittellos und auf die Hilfe von Freunden angewiesen im Alter von 39 Jahren starb – höchstwahrscheinlich in Folge einer Tuberkulose. Chopins kompositorischer Stil ist beeinflusst von der polnischen Volksmusik, der Tradition Bachs, Mozarts, Webers und Schuberts, aber auch vom Belcanto der italienischen Oper. Die Entfaltung seiner improvisatorischen Fähigkeiten in den Pariser Salons dürfen wohl auch als Grundlage seiner Kompositionen gelten, die bedeutsam für die Entwicklung der europäischen Musik waren, wie auch Theodor W. Adorno in seinen musiksoziologischen Schriften festhielt: „ein bedeutender Komponist von großer Originalität und unverwechselbarem Ton“[3].
Die Sammlung der 24 Préludes gilt als stilbildend und epochal und darf wohl als Gipfelwerk von Chopins Schaffen bezeichnet werden, zumal er mit ihr an „Das wohltemperierte Klavier“ des von ihm nicht nur pianistisch und spieltechnisch sehr verehrten Johann Sebastian Bach anknüpfte, der 48 Präludien und Fugen systematisch durch alle Dur- und Molltonarten geführt hatte und Chopin als Vorbildung für die Verdichtung und Reduktion des Materials diente. Chopins Breite an Stimmungen reicht dabei von düsterer Melancholie über innige Melodieseligkeit bis hin zu feuriger Leidenschaft – die durch knappe Sprache, expressiv-dramatische Tiefe und seelische Vielschichtigkeit gekennzeichneten Préludes entfalten sich jeweils aus einem motivischen Kerngedanken, der oft nur einen Takt oder Taktteil umfasst. Dass Chopin die französische Bezeichnung („Préludes“) wählte, lässt darauf schließen, dass er in diesen Miniaturen mehr sah als ein Vorspiel und die Konnotation des Präludierens als Fantasieren miteinschließen wollte.
Das von Stepien musizierte sechste Prélude in h-Moll (Lento assai) schlug klagende, melancholisch-pessimistische Klänge an – nicht umsonst soll Chopins Partnerin George Sand gesagt haben: „Es stürzt die Seele in eine schreckliche Depression“ (Original: „It precipitates the soul into a frightful depression.“)[4]. Dieses elegische Lamento lässt sich in seiner schmerzlichen Stimmung möglicherweise mit einem historischen Ereignis in Verbindung bringen – mit dem Aufstieg und dem Fall Napoleon Bonapartes. Auch das zweite von Stepien auf der Rudigierorgel vorgetragene Prélude in c-Moll (Largo) war von traurigen Klängen geprägt – denn das kürzeste der 24 Préludes erinnert stilistisch an einen Trauermarsch und lässt so in der Klavier- wie in der Orgelfassung dramatische Melancholie in den Herzen des Publikums zurück. Und so folgte auch nach dem letzten Ton im Linzer Mariendom auf eine längere, betroffene Stille ein lautstarker, nachdenklicher Applaus. Ganz im Sinne dessen, was sich der Interpret Stepien gewünscht hatte.
Anmerkungen:
[1] Górecki, Henryk Mikołaj (1998): Interview mit Maja Trochimczyk. Zit. nach: Polish Music Center [University of Southern California] (o.A.): Henryk Mikołaj Górecki. URL: https://polishmusic.usc.edu/research/composers/henryk-mikolaj-gorecki/ [Stand: 08/2019]
[2] Górecki, Henryk Mikołaj (1997): Interview im Zakopane. Zit. nach: Polish Music Center [University of Southern California] (o.A.): Henryk Mikołaj Górecki. URL: https://polishmusic.usc.edu/research/composers/henryk-mikolaj-gorecki/ [Stand: 08/2019]
[3] Adorno, Theodor W. (1962): Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. In: Tiedemann, Rolf (Hrsg.) (1997): Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften in 20 Bänden. Band 14. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 243.
[4] Sand, George (o.A.): o.A. Zit. nach Huneker, James: Chopin (1966): The Man and His Music. New York: Dover Publications. S. 125.
Stefanie Petelin
Bundesarchiv, Bild 183-S56603 / CC-BY-SA 3.0 de, Dommusikverein Linz/Gerhard Raab