Gerhard Raab war ROMANTISCH!
Dommusikassistent Gerhard Raab zeigte sich bei seiner MUSIK AM MITTAG ganz ROMANTISCH! Natürlich musikalisch. Denn mit Orgelwerken von Felix Mendelssohn Bartholdy, César Franck und Louis Vierne hüllte Raab den Mariendom Linz in eine romantische Klangwolke.
Romantisches von Mendelssohn Bartholdy
Raab eröffnete den romantischen Melodienreigen mit Felix Mendelssohn Bartholdys (1809–1847) Präludium in d-Moll aus dessen Sammlung „Drei Präludien und Fugen“ aus dem Jahr 1837/1838, die Thomas Attwood gewidmet sind („Drei Praeludien und Fugen für die Orgel componirt und Herrn Thomas Attwood, Organisten der Königlichen Kapelle zu London, mit Verehrung und Dankbarkeit gewidmet von F. M. B. op. 37“[1]) und in vielfältiger Weise mit London in Verbindung stehen. Die erste Fuge geht nämlich zurück auf eine Improvisation Mendelssohn Bartholdys 1833 in der St Paul‘s Cathedral, deren Thema dieser in einem Tagebucheintrag festgehalten hatte.
Die Vorbereitung des Drucks fällt unmittelbar in die Zeit vor und nach Mendelssohn Bartholdys Hochzeit mit Cécile Jeanrenaud am 28. März 1837 in Frankfurt. Mendelssohn hatte zunächst nur drei Fugen angeboten, seitens des Verlags Breitkopf & Härtel wurde aber die Anregung geäußert, die drei Fugen der Tradition entsprechend mit Präludien zu komplettieren – so schrieb Mendelssohn am 17. April 1837: „[…] übersende ich heut mit der Fahrpost das Manuscript der verlangten drei Praeludien zu den 3 Fugen für die Orgel. Es ist mir sehr lieb, daß sie dieselben zu haben wünschten, denn sie gefallen mir jetzt viel besser als die Fugen, die ich ursprünglich allein zur Herausgabe bestimmte.“[2] Tatsächlich hatte Mendelssohn Bartholdy während seiner Hochzeitsreise die drei Präludien komponiert, das von Gerhard Raab interpretierte wurde am 2. April 1837 in Speyer niedergeschrieben. Mit seinen „Drei Präludien und Fugen“ gab Mendelssohn Bartholdy schließlich auch den Anstoß für eine Orgelrenaissance im 19. Jahrhundert.
Betendes von Franck
Französisch-romantisch wurde es an der Rudigierorgel mit César Francks (1822–1890) „Prière“, FWV 32, aus dessen „Six pieces pour grand orgue“. Gewidmet ist das fünfte der sechs Stücke „à son maître monsieur François Benoist“ – also Francks Lehrer am Conservatoire de Paris – und entstand in den Jahren 1860 bis 1862. Aufgeführt wurde es vom Komponisten selbst am 17. November 1864 in Sainte-Clotilde, vier Jahre vor der Herausgabe der Druckfassung durch Maeyens-Couvreur. Spannenderweise tauchte vor einigen Jahren ein Exemplar der Erstausgabe mit handschriftlichen Notizen von Franck auf, die Metronomzahlen für jedes einzelne Werk enthielten und die bisher allgemein gebräuchlichen Tempi in Frage stellten.
Mit „Prière“ (französisch für „Gebet“) benutzte Franck einen Titel, der über die 1862 erschienene Orgelschule von Jacques Lemmens weite Verbreitung im französischsprachigen Raum fand. Es handelte sich dabei zumeist um schlichte, von der Form her freie Werke meditativen Charakters. Dieses Genre des 19. Jahrhunderts war dabei bei Orgel- und Klavierkomponisten wie Saint-Saens (1858), Lemmens (1862), Franck (1863), Alkan (um 1864) beliebt. Francks „Prière“ gilt dabei als das größte und wird von Norbert Dufourcq als „gewaltige Meditation über die Idee des Schmerzes“[3] interpretiert, die trotz immer wieder erhellender und zuversichtlicher Dur-Klangmomente schnell wieder in Cis-Moll-Klänge zurückkehrt und „den Glaubenden erneut in den aus Mystik und Furcht bestehenden Zustand der Ungewissheit zurückversetzt“[4]. Mit dem tiefgründigen Stück, das auf zwei Themen aufgebaut ist und diese mit improvisatorischen Elementen sowie enharmonischen Modulationen komplex verarbeitet, beeindruckte Raab im Mariendom Linz.
Oder wie Albert Schweitzer so wunderbar über Francks Musik schrieb: „Franck composes idiomatically, in a style that seems to spring from the true, fundamental character oft he organ itself. [...] Hardly any other modern master has succeeded, by means of completely simple registration, in making the tonal riches of the modern organ so effective.“ (Übersetzung: „Franck komponiert idiomatisch in einem Stil, der dem wahren, fundamentalen Charakter der Orgel zu entspringen scheint. […] Kaum ein anderer Meister der Moderne hat es durch eine ganz einfache Registrierung geschafft, den klanglichen Reichtum der modernen Orgel so wirkungsvoll zu präsentieren.“)[5] Und wirkungsvoll war Raabs Interpretation allemal.
Symphonisches von Vierne
Abschließend musizierte Gerhard Raab den sechsten und letzten Satz („Final“) aus Louis Viernes (1870–1937) Première symphonie pour grand orgue, op. 14. Gewidmet ist die um 1895 bis 1898 entstandene Orgelsymphonie Viernes Freund und Mentor Alexandre Guilmant („À Alexandre Guilmant“). Guilmant hatte 1896 bei seiner Übernahme der Orgelklasse von Charles-Marie Widor am Conservatoire de Paris dafür gesorgt, dass Vierne Assistent bleiben durfte. Und Vierne wurde 1902 auch Guilmants Nachfolger als Honorarorganist an Notre-Dame de Paris. Guilmant war es auch, der Viernes Première symphonie in einem kleinen Kreis im Palais du Trocadéro in Paris vorspielte.
Louis Vierne, der mit einer schweren Sehbehinderung geboren worden war, erlangte erst im Alter von sieben Jahren ausreichend Sehkraft, um sich im Alltagsleben zu weiten Teilen selbständig orientieren und Großdruckschrift lesen zu können. Sein musikalisches Schlüsselerlebnis war, César Franck 1880 in der Pariser Kirche Sainte-Clotilde als Organist gehört zu haben. In seinen Memoiren nannte er dies später eine „Offenbarung“. Und so studierte er später Orgel bei Franck und Widor am Conservatoire de Paris – er schloss 1894 mit einem ersten Preis in Orgelspiel und Improvisation ab. Widor ernannte seinen Schüler Vierne schließlich zum Stellvertreter an Saint-Sulpice und zu seinem Assistenten in der Orgelklasse. Ins Jahr 1898 fällt die Komposition von Viernes erster Orgelsymphonie.
Louis Vierne (1870–1937): Première symphonie pour grand orgue, op. 14: VI. Final | Rudigierorgel: Dommusikassistent Gerhard Raab
In der Sechssätzigkeit könnte Charles-Marie Widors zweite Symphonie als Vorbild gedient haben – zumal als Viernes kompositorische Vorbilder Franck und Widor, aber auch Mendelssohn Bartholdy und Schumann auszumachen sind. Viernes erste Symphonie ist aufgrund ihrer sechs Sätze daher auch eher als Suite zu bezeichnen. Die Sätze der Symphonie sind dabei nach dem Kontrastprinzip angelegt – bei Raabs musiziertem Satz, dem „Final“, handelt es sich um ein carillonartiges Stück, das das charakteristische Element der vorangehenden Sätze, ein Quartmotiv, sowie das Prinzip der Synkopierung wieder aufgreift. Komponiert ist es in Sonatenhauptsatzform.
Neben der berühmten Toccata aus Widors fünfter Symphonie handelt es sich beim „Final“ um das wohl typischste und erfolgreichste der eigentlich mit einfachen Mitteln arbeitenden, aber äußerst wirkungsvollen Schreibweise, die ihre Ursprünge in der Improvisation hat. Auch wenn sich Vierne selbst viele Jahre später recht kritisch über den musikalischen Gehalt seiner ersten Symphonie äußerte und das „Final“ zum Beispiel als „pompier“, also „banal“, bezeichnete – davon konnte im Konzert keine Rede sein: Gerhard Raab verzauberte mit Viernes eigenem musikalischen Idiom – dieses hatte er beim ORGEL.SEMINAR mit Ben van Oosten hinsichtlich der Interpretation noch geschärft. Und so bewahrheitete sich, was Dommusikassistent Raab im Vorfeld im ORGEL.SOMMER-Interview angekündigt hatte: „Das besonders Reizvolle an meinem romantischen Konzert als Interpret und als Zuhörer ist sich fallen zu lassen und eine Musik zu genießen, bei der sich die Rudigierorgel in ein ganzes Orchester verwandelt.“ Diesen romantischen Genuss belohnte die Zuhörerschaft mit berührtem, begeistertem und lautstarkem Applaus.
Anmerkungen:
[1] Elvers, Rudolf (Hrsg.) (1968): Felix Mendelssohn Bartholdy. Briefe an deutsche Verleger. Berlin: de Gruyter. S. 63ff.
[2] Ebd. S. 60f.
[3] Zit. nach: Faber, Rudolf / Hartmann, Philip (2002) (Hrsg.): Handbuch Orgelmusik: Komponisten, Werke, Interpretation. Bärenreiter: Kassel. S. 387.
[4] Ebd.
[5] Schweitzer, Albert (o.A.): Notes accompanying his recording of the Trois Chorals. Columbia ML 5128. Zit. nach: Smith, Rollin (1997): Playing the Organ Works of César Franck. Stuyvesant NY: Pendragon Press. S. 147.
Stefanie Petelin
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