ORGEL.SOMMER: Bernhard Haas blickt auf ZEIT.WERTE
Norddeutsche Klänge mit Scheidemann, Weckmann und Bach
Bernhard Haas, Professor für Orgel an der Hochschule für Musik und Theater München, eröffnete sein Konzert ZEIT.WERTE mit einer Fantasia über das Magnificat VIII. Toni, WV 66, von Heinrich Scheidemann (um 1596–1663), der 1629 die Nachfolge seines Vaters als Organist der Hamburger Katharinenkirche antrat, ein Amt, das er bis zu seinem Tod innehatte. Im norddeutschen Bereich kann das Œuvre dieser zentralen Persönlichkeit des Hamburger Musiklebens hinsichtlich Quantität und Qualität nur mit jenem Buxtehudes verglichen werden. Mit seiner Sammlung von acht vierteiligen Zyklen stellte sich Scheidemann bewusst in die hamburgische Magnificat-Traditionslinie. Scheidemanns Magnificat-Vertonungen bestehen dabei sowohl aus Sätzen motettischer Schreibart als auch aus Vertonungen im Stil der Choralfantasie. Außer den Fantasien innerhalb des Zyklus ist noch die im Konzert musizierte, alleinstehende Fantasia über das Magnificat VIII. Toni erhalten, die mit ihrem Erfindungsreichtum als eine von Scheidemanns bedeutendsten Kompositionen gilt und den Mariendom mit hanseatischen Klängen erfüllte.
Mit Matthias Weckmanns (um 1616–1674) Choralbearbeitung „Nun freut euch, lieben Christen gmein“ blieb Haas musikalisch zunächst in Hamburg. Denn der aus Thüringen stammende Weckmann wurde 1655 nach einem glanzvollen Probespiel, in dem er bewies, dass er „allen Sätteln gerecht“[1] war, als Organist an die Hamburger Sankt-Jacobi-Kirche berufen. In Weckmanns Orgelmusik sind insbesondere die Choralbearbeitungen hervorzuheben, in denen er ein Niveau erreichte wie nach ihm erst wieder Johann Sebastian Bach (1685–1750), der Schöpfer des anschließend von Haas interpretierten Werkes.
Bachische Klänge erfüllten den Mariendom mit Bachs fantasievollem Frühwerk „Ein feste Burg ist unser Gott“, BWV 720, das zu seinen beliebtesten Choralbearbeitungen zählt. Inspiriert ist die vor 1712 entstandene Komposition von der norddeutschen Choralfantasie. Die Verarbeitung des Cantus firmus erfolgt dabei in unterschiedlichen Formen – vom dreistimmigen Satz über eine Colorierung des Cantus firmus bis hin zur Einbettung des Cantus firmus ins Pedal.
Romantisches Intermezzo mit Schoeck
Im Gegensatz zu Johann Sebastian Bach ist Othmar Schoeck (1886–1957) heute leider nahezu vergessen. Die zehn Ritornelle und Fughetten, op. 68, des Schweizers sind im Original für Klavier komponiert, lassen sich jedoch auch manualiter auf der Orgel spielen, wie Haas meisterhaft auf der Rudigierorgel zu Gehör brachte. Gewidmet ist die im Sommer 1953 in Zürich und Muzot entstandene Sammlung Schoecks Tochter Gisela, die 1955 auch die Uraufführung am Klavier im Schweizer Landessender Beromünster bestritt.
Farbenprächtige Klanggemälde von Messiaen und seinen Nachfolgern
Olivier Messiaens (1908–1992) „Soixante-quatre durèes“ stammen aus einer Sammlung, die 1951 komponiert und 1953 in Stuttgart von Messiaen selbst uraufgeführt wurde. Der Titel des Satzes verrät bereits die kompositorische Grundidee: Messiaens Stück arbeitet mit 64 chromatischen Tondauern – von einem Zweiunddreißigstel bis zu einer Longa. In Form eines rhythmischen Kanons treffen die beiden Zeitschichten in der Mitte des Stücks aufeinander, das in den Wiesen um Petichet im Tal der Isère, unweit von Messiaens Sommerhaus, entstand.
Olivier Messiaens Musik der Farben beeindruckte in den neogotischen Gemäuern des Mariendoms. Messiaens Begeisterung für Farben wurde bereits in seiner Kindheit gelegt, denn der kleine Olivier besuchte im Alter von zehn Jahren zum ersten Mal die aus bunten Glasfenstern bestehende Sainte-Chapelle auf der Île de la Cité in Paris und war völlig überwältigt von den Farben und dem Farbenspiel der mittelalterlichen Kirchenfenster. Und so beschrieb er später seine Musik der Farben mit folgenden Worten: „Die Musik der Farben macht das, was die Glasfenster und Rosetten des Mittelalters tun: sie beschert uns das Überwältigtsein.“[2] Bernhard Haas überwältigte ganz im Sinne Messiaens mit seiner Kirchenfenstermusik und brachte das Publikum zum Staunen, berührte es innerlich und öffnete es so für Gott.
Künstlerisch von Kursen bei Messiaen inspiriert war das daran anschließende Werk des zeitgenössischen Komponisten, den Bernhard Haas im Anschluss vorstellte – den aus dem kanadischen Toronto stammenden Bruce Mather (*1939). Der Komponist schuf 1982 für den belgischen Organisten Bernard Foccroulle sechs Etüden für Orgel, die sich verschiedenen technischen Problemen widmen. Bei der aus dieser Sammlung stammenden „Vision fugitive“ handelt es sich um ein kurzes, bewegtes Stück, ein flüchtiges Spiel mit Klangfarben. Uraufgeführt wurde es im März 1983 im rheinland-pfälzischen Sinzig vom Widmungsträger.
Beim abschließenden Stück des Konzertprogramms konnte man im Linzer Mariendom eine Stecknadel fallen hören. Die Komposition „Et l’unique cordeau des trompettes marines“, eine Vertonung von Guillaume Apollinaires gleichlautendem Monostichon mit dem Titel „Chantre“ aus dem Lyrikband „Alcools“ von 1913 beeindruckte mit ihrer Vielfarbigkeit und ihrem Facettenreichtum. Als der Komponist Thomas Lacôte (*1982) – heute unter anderem Titularorganist an La Trinité in Paris – den Einzeiler achtzehnjährig erstmals las, nahm er sich tief beeindruckt vor, diese wenigen Worte in Musik zu verwandeln – unwissend, wie und wann (Original: „Je connaissais ce monostique, extrait d’Alcools de Guillaume Apollinaire, depuis mes dix-huit ans. Sa découverte m’avait très intensément impressionné, et je m’étais immédiatement promis d’écrire de la musique à partir de ces quelques mots. Laquelle et quand, je n’en savais rien.“[3]).
Thomas Lacôte (*1982): Etudes pour orgue (1er cahier): Et l'unique cordeau des trompettes marines | Rudigierorgel: Bernhard Haas
(Mit freundlicher Genehmigung von Thomas Lacôte | Webseite des Komponisten | Bestellung der Noten beim Verlag)
Uraufgeführt wurde das Werk, das auf die „trompettes marines“, die einsaitigen Streichinstrumente mit schnarrendem, schmetterndem Klang mit trompetenartiger Färbung, Bezug nimmt, übrigens im März 2006 im Maison de la Radio in Paris von Ghislain Leroy. Gewidmet hat Lacôte das beeindruckende Werk, das für Gänsehautmomente im Mariendom sorgte, dem Organisten Louis Robilliard, der im Dezember 2019 seinen 80. Geburtstag feiert, als Zeichen seiner tiefen Bewunderung. Bewunderung galt auch Haas von Lacôte selbst, der sich über Haas' Interpretation im Linzer Mariendom freute, da er diesen außergewöhnlichen Musiker für sein Engagement, Musik, die er selbst liebt, bekannt zu machen, äußerst schätzt. (Original: „Bernhard [Haas] est un interprète extraordinaire et très engagé pour faire connaître la musique qu'il aime.“)
Nach einem begeisterten Applaus für seine spannende musikalische Zeitreise musizierte der beim Konzert von seinem Sohn Robert an der Brustwerkkurbel sowie seinen zwei Registranten Markus Neumüller und Martin Riccabona unterstützte Haas Johann Sebastian Bachs Inventio Nr. 3 in D-Dur, BWV 774. Wie hatte er im Vorfeld des Konzerts im ORGEL.SOMMER-Interview so schön über seine musikalische Reise durch Zeit und Raum gesagt: „Das besonders Reizvolle als Interpret und als Zuhörer ist die Verschiedenheit der Empfindungen darin: trotzdem scheint mir alles in irgendeiner Weise nachvollziehbar ..." Und damit sollte er recht behalten.
Anmerkungen:
[1] Mattheson, Johann (1740): Grundlage einer Ehrenpforte, woran der tüchtigsten Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler &c. Leben, Wercke, Verdienste &c. erscheinen sollen. Vollständiger, originalgetreuer Neudruck aus dem Jahr 1910. Berlin: Kommissionsverlag von Leo Liepmannssohn. S. 394–398. S. 395.
[2] Rößler, Almut (1984) (Hrsg.): Beiträge zur geistigen Welt Olivier Messiaens. Mit Original-Texten des Komponisten. 2. Auflage (1993). Duisburg: Gilles & Francke Verlag. S. 70.
[3] Lacôte, Thomas (2013): «L’orgue l’a fait lui-même…» – A propos d’une de mes Etudes pour orgue. URL: https://thomaslacote.wordpress.com/2013/12/03/lorgue-la-fait-lui-meme/ [Stand: 08/2019]
Stefanie Petelin
Valerii – stock.adobe.com, Dommusikverein Linz/Florian Zethofer
17. August 2019