ORGEL.SOMMER: Wolfgang Kreuzhubers FREI.SPIEL
Ob aus Altaussee oder Lichtenberg, ob aus Wien oder Asten – von Nah und Fern waren die Zuhörerinnen und Zuhörer am 1. August 2019 zum ORGEL.SOMMER-Konzert FREI.SPIEL in den Mariendom Linz gekommen, um Domorganist Wolfgang Kreuzhuber bei seiner Lieblingsbeschäftigung – dem Improvisieren – zu erleben.
„Für mich als Improvisator ist die Rudigierorgel eines der inspirierendsten Instrumente, die ich kenne“, hatte Kreuzhuber bereits im Vorfeld im ORGEL.SOMMER-Interview verraten. Kreuzhuber stellte im Orgelkonzert auf diesem inspirierenden Instrument die gesamte Bandbreite der Improvisationskunst vor: Vom Improvisator noch selbst in Notenschrift übertragene Improvisationen von Maurice Duruflé und Camille Saint- Saëns über Improvisationen, die mit Hilfe von Aufnahmen auf Tonträgern im Nachhinein transkribiert wurden (Pierre Cochereau und Anton Heiller) bis hin zu eigenen Improvisationen, die gänzlich dem Moment entsprangen, ganz im Sinne des legendären Louis Armstrong: „What we play is life“.
Anton Heiller – Reminiszenz an die Weihe der Rudigierorgel 1968
Domorganist Wolfgang Kreuzhuber eröffnete sein Improvisationskonzert mit einem ganz besonderen Werk – einer in Noten übertragenen Improvisation von Anton Heiller (1932–1979), mit der dieser beim Weihefest der Rudigierorgel im Dezember 1968 das Publikum begeisterte und Maßstäbe im Bereich Improvisation setzte. Wolfgang Kreuzhuber – Heillers Schüler in Wien – begeisterte das Publikum auch 50 Jahre später mit diesem von Monika Henking transkribierten Höhepunkt der Improvisationskunst.
Ein kleiner Blick zurück in die Geschichte des berühmten Instruments verrät mehr über das außergewöhnliche Werk: Bei der dritten Orgelvesper am 8. Dezember 1968 improvisierten die drei Koryphäen Hans Haselböck, Anton Heiller und Gaston Litaize jeweils rund zwanzig Minuten über marianische Gesänge. Heillers Improvisation über den Hymnus „Ave Maris stella“ wirkte mit ihrer Farbigkeit, ihrer kontrapunktischen Verarbeitung und ihrer Harmonik prägend für nachfolgende Generationen von Organistinnen und Organisten – bis heute. Formal ist Heillers Improvisation als französische Suite mit den Sätzen Pleinchant, Duo, Basse de Voix humaine et de Trompette, Tierce en taille, Anches und Fuge, vergleichbar mit jenen von Nicolas de Grigny oder François Couperin, angelegt, allerdings in Heillers moderner und unverwechselbarer Tonsprache.
Maurice Durufle – meditativ-empfindsame Orgelklänge aus Paris
Französisch-romantisch wurden die Klänge im Mariendom bei der anschließenden Méditation pour orgue, op. posth., von Maurice Duruflé (1902–1986), die im für französische Orgelkunst typischen Aufbau angelegt ist. Duruflé, von 1929 bis zu seinem Tod Titularorganist an der Pfarrkirche Saint-Étienne-du-Mont in Paris, notierte das vermutlich auf eine Improvisation zurückgehende Werk um das Jahr 1964.
Aufgeführt wurde das Stück bis zu seiner Veröffentlichung 2002 lediglich von ihm selbst und Duruflés Frau Marie-Madeleine Chevalier im Rahmen von liturgischen Feiern in Saint-Étienne-du-Mont. Während der Erstellung seiner Skizze im Jahr 1964, entschied sich Duruflé, dessen Anfangsthema für das Agnus Dei seiner Messe „Cum Jubilo“ (1966) zu verwenden. Die Übergänge der harmonischen Begleitung und die damit verbundenen Manualwechsel zeigen Duruflé als versierten und klanglich empfindsamen Improvisator. Die Interpretation von einem gleichermaßen versierten und empfindsamen Improvisator – Wolfgang Kreuzhuber – lud zum Träumen und Genießen ein.
Camille Saint-Saëns – selten gehörte Improvisationskunst
Mit dem schwirrend-schwebenden Poco Adagio aus Camille Saint-Saëns‘ (1835–1921) Sammlung von sieben Improvisationen gab Kreuzhuber eine Kostprobe aus dessen umfangreichem, aber selten gespieltem Orgelwerk und präsentierte damit hohe französische Improvisationskunst. Entstanden ist das Eugène Gigout gewidmete Charakterstück zwischen Dezember 1916 und Februar 1917, als Saint-Saëns mit einer Bronchitis ans Bett gefesselt war. Der am 25. März 1917 im Théâtre des Nations in Marseille uraufgeführte Zyklus verdient nicht nur aufgrund der Verwendung gregorianischer Choräle, von Kirchentonarten und einem weiten harmonischen Vokabular Beachtung.
Zeitlebens schätzte Saint-Saëns, langjähriger Titularorganist an La Madeleine, die Improvisation, wie folgende Zeilen aus einer Ausgabe „The Musical Quarterly“ aus dem Jahr 1916 verraten: „Allein die Improvisation ermöglicht es, alle Möglichkeiten eines großen Instruments zu nutzen und sich an die unendliche Vielfalt von Orgeln anzupassen. Nur die Improvisation kann die Anforderungen des Gottesdienstes vollkommen erfüllen, da für diesen Zweck geschriebene Stücke entweder zu kurz oder zu lang sind. Letztlich werden in der Praxis des Improvisierens häufig kreative Fähigkeiten entwickelt, die ohne sie verborgen geblieben wären.“ (Original: „[I]t is improvisation alone which permits one to employ all the resources of a large instrument, and to adapt one's self to the infinite variety of organs; only improvisation can follow the service perfectly, the pieces written for this purpose being almost always too short or too slow. Finally, the practice of improvisation frequently develops faculties of invention which, without it, would have remained latent.“)[1]
Wolfgang Kreuzhuber – heiter-lebendig-variationsreiche Eigenkreationen
Nicht im Verborgenen blieben Wolfgang Kreuzhubers (*1957) kreative Fähigkeiten mit seiner freien, nicht cantus-firmus-gebundenen Improvisation in Form eines Scherzos. Tänzerisch bewegt, rhythmisch lebendig und virtuos lässt sich Kreuzhubers improvisiertes Scherzo charakterisieren, wie auch die nachfolgende Hörprobe beweist:
Wolfgang Kreuzhuber (*1957): Freie Improvisation | Rudigierorgel: Domorganist Wolfgang Kreuzhuber
Improvisierte Variationen über das unmittelbar vor der Umsetzung gewählte Thema („Lasst uns loben, freudig loben“, Gotteslob 489) ließen den Konzertabend ganz im Sinne des Mottos FREI.SPIEL ausklingen. Die Frage, wieso er gerade dieses Gotteslob-Lied als Improvisationsthema gewählt hatte, beantwortete er mit einem schelmischen Lächeln: „Ich habe unmittelbar vor der Improvisation das Gotteslob zur Hand genommen, aufgeschlagen und schon hatte ich mein Thema ...“
Pierre Cochereau – französische Kathedralklänge mitten in Linz
Seine Leidenschaft fürs Improvisieren teilt der Oberösterreicher Wolfgang Kreuzhuber mit Pierre Cochereau (1924–1984), dem Urheber des nächsten Stückes, der für seine Improvisationen als Titularorganist von Notre-Dame de Paris bekannt war. Charakteristisch waren für ihn Rückgriffe auf ältere französische Stile und Formen – so beschreitet er auch in seinem „Berceuse à la mémoire de Louis Vierne“ in dankbarer Erinnerung an einen seiner Vorgänger an der Pariser Kathedrale dessen harmonisches Feld und gestaltet dieses Wiegenlied, das dank Fréderic Blanc in einer Übertragung vorliegt, formal und harmonisch ähnlich wie sein Vorbild Vierne. Kreuzhubers Interpretation von Cochereaus Improvisation ging im Linzer Mariendom prächtig auf und füllte die Kirche mit gewaltigen Klängen – dies verwundert nicht, hatte Cochereau seine Improvisation doch für die Pariser Kathedrale Notre-Dame ausgerichtet.
Begeistertes Publikum – von Linz bis Wien, von Lichtenberg bis Altaussee
Domorganist Wolfgang Kreuzhuber durfte sich über begeisterten, lautstarken Applaus freuen, der ihn zu einer Zugabe – einer stimmungsvollen Improvisation über „Der Mond ist aufgegangen“ – animierte. Im Anschluss an das perfekt programmierte, farbenreiche Konzert gab es neben Worten wie „beeindruckend“, „großartig“ oder „wunderschön“ auch Rückmeldungen wie „Die verschiedenen Improvisationen – das war einfach wie im Himmel!“ oder „Es war so wunderbar – Dir fahr ich überall hin nach!“.
Und auch Kreuzhuber zeigte sich zufrieden: „Ich freue mich sehr, dass die Musik so gut beim Publikum angekommen ist, dass auf die Leute übergesprungen ist, was ich beabsichtigt hatte. Es ist immer wieder ein wunderbares Gefühl, wenn beim Musizieren ein kleiner Teil einer anderen Welt in Klängen zu hören ist ...“ Dass Wolfgang Kreuzhuber dies gelungen ist, verwundert nicht, präsentierten sich das Instrument, der Raum und der Künstler doch als großes Ganzes …
Anmerkungen:
[1] Saint-Saëns, Camille (1916): Music in the Church. In: The Musical Quarterly, Vol. II, No. 1. S. 1–8. S. 8.
Stefanie Petelin
lobro – stock.adobe.com (Vorschaubild), Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin (Konzertfotos)
2. August 2019