Ben van Oosten im Interview
Unmittelbar vor seinem Konzert BONJOUR, MONSIEUR BACH am 5. Juli 2019 führte Redakteurin Stefanie Petelin ein Interview mit dem Ausnahmekünstler Ben van Oosten und seiner Frau Margaret Roest.
Die Rudigierorgel ist für mich …
... ein Monument der Zeitgeschichte, sie ist ein Klangdenkmal der zeitgeschichtlichen Periode Ende der 1960er-Jahre.
Es gibt heute nicht mehr viele Orgeln aus dieser Zeit, die sich so präsentieren. Bei einigen Instrumenten wurde klanglich etwas geändert, bei anderen ist der Zustand noch original, aber die Orgeln klingen nicht mehr für unsere heutigen Ohren. Bei der Rudigierorgel ist das anders – genauso wie bei meiner Orgel in Den Haag [Anm.: Ben van Oosten ist Titularorganist an der Grote Kerk in Den Haag], einer Metzler-Orgel von 1971 – die ist auch heutzutage noch fantastisch. Die könnte man genau so wieder bauen … sie ist in sich perfekt – es ist auch ein Zeichen der Ehrfurcht, sie so zu belassen, wie sie da steht …
Die Rudigierorgel ist ein Instrument, auf dem man so viele Stile spielen kann. Es ist natürlich eine ganz, ganz große Freude, Bach auf ihr zu spielen, aber genau so wunderbar ist es, Symphonisches darauf zu musizieren. All das ist gleich gut möglich – man kann auf einer Orgel dieser Qualität eigentlich alles spielen. Auch zeitgenössische Musik ließe sich hier sicher gleich gut spielen wie die Franzosen aus der Zeit des Grand Siècle. Gerne würde ich hier auch einmal Messiaen spielen – und Langlais, Litaize und wie sie alle heißen …
Wenn man sich weltweit umsieht, zählt die Rudigierorgel neben ganz wenigen anderen Instrumenten wirklich zu den besten Orgeln des 20. Jahrhunderts … sie ist wirklich spitze.
Wenn ich nicht das Orgelkonzert im Mariendom Linz spielen würde, dann …
... würde ich üben. Denn ich habe nächste Woche noch drei Konzerte – zwei in Holland und eines in Spanien – mit drei verschiedenen Programmen. Aber am liebsten würde ich hier im Dom üben!
Als wir [Anm.: Ben van Oosten und seine Frau Margaret] in den Dom zum Üben kamen, entdeckten wir einen Monitor, auf dem man sieht, was sich so alles im Dom tut. Bei der Probenzeit stand auch mein Name – dann haben wir noch gelacht, weil Margaret hat oben gespielt und ich habe unten ein bisschen die Registrierungen abgehört [Ben van Oostens Frau Margaret lacht und ergänzt: Das möchte man lieber nicht hören!]. Da ist uns eine Geschichte eingefallen, die wir einmal in Düsseldorf erlebt haben: Wir haben es ähnlich gemacht wie hier – Margaret saß an der Orgel und spielte und ich saß einfach da und hörte zu. Dabei sah uns der Küster längere Zeit zu. Und wie wir dann später erfuhren, rief dieser den Organisten an und fragte ihn besorgt: „Bist Du sicher, dass ER morgen spielt?“
Im Konzert trifft Bach auf drei bedeutende französische Symphoniker – das besonders Reizvolle daran als Interpret und als Zuhörer ist …
Natürlich kann man mit dieser Programmauswahl zeigen, dass man beide Stile auf der Rudigierorgel spielen kann. Bach klingt natürlich ganz anders als die französischen Symphoniker – man kann beides nicht miteinander vergleichen, aber es gibt so viele Berührungspunkte in der Musik ... und das kann man auch hören, dass die Franzosen sehr von Bach inspiriert und beeinflusst waren.
[Ben van Oosten holt Noten von Bach, Franck und Widor aus seiner Tasche ...]
Der a-Moll-Choral von César Franck weist beispielsweise viele Ähnlichkeiten mit Johann Sebastian Bachs Präludium und Fuge a-Moll, BWV 543, auf – da scheint Bach für Franck eine Inspirationshilfe gewesen zu sein. Und auch in der sechsten Symphonie von Charles-Marie Widor gibt es ein Rezitativ, das an den Stylus Phantasticus erinnert. Widor verwendet nahezu die gleiche absteigende Linie wie Bach in einem Präludium.
Zwischen Bach und den Symphonikern gibt es also viele Berührungspunkte und Parallelen ... es ist also doch nicht so ganz anders, wie man gerne glauben möchte ...
Zum ersten Mal habe ich Musik von Johann Sebastian Bach gehört, als...
Ich weiß es nicht mehr ganz genau ... aber mein Vater war Amateurorganist und versah immer wieder an verschiedenen Kirchen vertretungsweise seinen Dienst als Organist. Er hat mich schon als ganz kleiner Junge mitgenommen – und er hat damals natürlich auch Bach gespielt … mein erstes Bach-Hörerlebnis muss also irgendwann gewesen sein, als ich ganz klein war und mit ihm bei einem seiner Orgeldienste war.
Mein Vater hat mich auch immer zu Konzerten mitgenommen – und da habe ich natürlich auch schon ganz früh Bach gehört.
Eigentlich war mein Vater dafür verantwortlich, dass ich Organist geworden bin. Es war immer sein Wunsch, selbst Organist zu werden – zu seiner Zeit war das aber noch nicht so einfach, er empfand den Beruf der Organisten als zu unsicher und so war er Beamter und spielte hobbymäßig Orgel. Er fand das wunderbar, dass ich den Wunsch und die Begabung hatte, Organist zu werden – darum hat er mich immer gefördert, damit sich für mich erfüllte, was er sich selbst gewünscht hatte.
An César Franck und seiner Musik fasziniert mich …
... zunächst einmal, dass bei ihm jede Stimme „singt“. Keine Stimme ist der anderen untergeordnet – und selbst wenn man sich denkt „Das ist eigentlich eine schöne Melodie in der Hauptstimme!“ entdeckt man beim genaueren Hinsehen auf die anderen Stimmen, dass diese eigentlich genau so schön sind. Bei Franck braucht man jede Stimme, bei ihm ist keine Note zu viel – und all das so fein und elegant. Neben diesem melodischen Zugang kann man Franck natürlich auch für seine harmonische Sprache bewundern.
César Franck wurde von seinen Schülern liebevoll „le pére Franck“ oder „le maître angélique“ genannt – aber das ist nur eine Seite, er war auch sehr leidenschaftlich und konnte sehr temperamentvoll sein. Franck war nicht nur der liebenswürdige, sanfte Vater Franck, sondern auch ein Mensch mit viel Feuer – und das hört man in seiner Musik auch.
Franck war außerdem sehr bescheiden – selbst, wenn seine Musik nicht gut gespielt wurde, war er schon glücklich. Er war dankbar, dass man überhaupt seine Musik spielte. Und seine Schüler haben ihn sehr geliebt. Eigentlich ist es sehr interessant, dass Franck – anders als Guilmant oder Widor – keine großen Organisten hervorgebracht hat ... er hatte sehr wichtige Schüler, aber sie wurden eher Komponisten und Pianisten, nicht Organisten …
Ein Satz über Marcel Dupré …
Dupré war ein ganz anderer Mensch als Franck. Er war sehr streng, sehr methodisch, sehr akademisch. Alle mussten so spielen, wie er es vorgab – selbst sein Fingersatz war heilig.
Dies hängt auch damit zusammen, dass für ihn die Technik des Orgelspiels von großer Bedeutung war, für Franck überhaupt nicht. Es erstaunt darum nicht, dass alle Dupré-Schüler große Techniker sind ...
Charles-Marie Widor lässt sich als Mensch, Lehrer, Organist und Essayist am besten so beschreiben …
Als Mensch war Widor ein Grandseigneur. Er hat das Leben sehr genossen. Seine Antwort auf eine Frage zu seinem 90. Geburtstag zeigt dies auch sehr gut ... denn er wurde gefragt, was man machen (oder eben lassen) soll, um so alt zu werden und in hohem Alter noch so aktiv zu sein. Er antwortete mit den wunderbaren Worten: „Man soll drei Dinge im Leben machen: Man soll immer gut essen. Man soll immer gut trinken. Und man soll seinen Kopf nicht abwenden von einem schönen Gesicht.“
Als Lehrer war Widor der Nachfolger César Francks am Conservatoire de Paris. Franck legte – wie ich schon erwähnte – nicht so großen Wert auf Technik. Er hatte auch keine Orgelmethode oder Orgelschule. Widor hingegen studierte bei Jacques-Nicolas Lemmens in Brüssel, dessen Unterricht eine Orgelschule mit strengen technischen Regeln für Artikulation und Legatospiel zugrunde lag. Diese Orgelmethode brachte Widor wiederum seinen Schülern am Conservatoire bei.
Und als Organist befolgte er diese Regeln natürlich auch ganz streng. Widor war auch als Organist ein Grandseigneur, der unglaublich viel Grandeur, viel Atem, viel Ruhe hatte. Er warnte stets vor schnellen Tempi, er bevorzugte ruhige Tempi, denn die Größe, die Majestät der Musik war für ihn von großer Bedeutung, gerade bei der Orgel, die als majestätisches Instrument gilt.
Da gibt es eine Geschichte – in einer Kritik bezeichnete man ihn als „großen Virtuosen“ und Widor war sehr enttäuscht. Denn er empfand dieses Lob als Beleidigung, da Virtuosität gemeinhin mit Schnelligkeit in Verbindung gebracht wird. Heute werden Orgelkonzerte oft auch via Video auf eine Leinwand in den Kirchenraum übertragen – Widor wäre nicht glücklich mit den heute leider sehr beliebten Videoübertragungen, denn er war der Auffassung, dass man den Organisten oder die Organistin nicht sehen sollte, man sollte nur die Musik hören. Er war sich sicher: Das Schauen lenkt ab vom Zuhören ...
Und als Essayist hat er sehr viel geschrieben – über ganz unterschiedliche Themen. Denn er war ein sehr breit gebildeter Mann, er hatte nicht nur Interesse für Musik. Er konnte auch mit Vertretern anderer Disziplinen – ob Literatur oder Kunst – über ihre Fachwelten diskutieren – und das sieht man auch in seinen Aufsätzen.
Was war Ihr prägendstes musikalisches Erlebnis?
Zunächst einmal bin ich musikalisch von meinem Vater geprägt. Und dann gab es in Den Haag auch noch einen Organisten an der Lutherse Kerk, zu dessen Konzerten mich mein Vater in den 1960er-Jahren oft mitnahm. In dieser Zeit spielte bei uns in Holland niemand Franck, Widor oder Vierne – und wenn es jemand spielte, dann war es verpönt. Aber dieser Organist – Feike Asma – spielte immer diese Musik und er hat immer betont: „Das ist gute Musik, das ist wirklich gute Musik!“ Er selbst spielte auf der historischen Bätz-Orgel in der Burgwalkerk Widor-Symphonien, natürlich musste er sich da vieler Kunstgriffe bedienen. Und ich hab das als kleiner Junge gehört, mit fünf oder sechs Jahren – nach einem solchen Konzert konnte ich nicht schlafen ... ich weiß nicht, ob es gut gespielt war, aber ich war so begeistert von diesen Klängen und diesem Idiom, das hat mich so inspiriert und geprägt, denn dies war meine erste Begegnung mit dieser Musik. Später habe ich diese Musik dann natürlich in Frankreich auf den richtigen Orgeln gehört – dann wurde die Begeisterung noch größer.
Feike Asma war ein sehr musikalischer Spieler, aber technisch nicht perfekt. Er spielte mit Herz, mit Feuer und großer Aussagekraft – in Holland hat man immer gesagt: „Er spielt die Orgel wie ein Zigeuner Geige spielt ...“ Überall wo er spielte, war die Kirche voll – das Publikum liebte ihn, lediglich bei Stilisten und Puristen am Konservatorium war sein Wirken verpönt.
[Ben van Oostens Frau Margret ergänzt: Ganz viele Organisten so wie Ben sind von Feike Asma begeistert worden. Sie sagen alle: „Wir sind durch ihn, durch sein Feuer zur Orgel gekommen und wir haben alle früher in unserer Jugend diesen musikalischen Tick von Feike Asma bekommen.“]
Asma hatte selbst keine Orgelausbildung am Konservatorium – und ich wollte es ihm gleich tun. Mein Wunsch war, bei ihm zu studieren. Als er das hörte, schrieb er mir – ich war damals noch sehr jung – einen wunderschönen Brief, in dem er erklärte: „Du musst erst studieren am Konservatorium, danach kannst Du machen, was Du willst. Mach es nicht wie ich, das war mein Fehler. Eine Fachausbildung ist wichtig.“ Und er hatte Recht. Und so studierte ich bei dem großen Improvisator Albert de Klerk in Holland (meinen Unterricht hatte ich in der St. Bavo Kerk in Haarlem an der berühmten Müller-Orgel) und bei André Isoir in Frankreich. Dieser war für mich einfach „woah!“ – so ein großer Musiker!
[Ben van Oostens Frau Margret wirft ein: Und irgendwann sagte er im Unterricht zu Ben: „Très musical, très musical! Jetzt musst Du nicht mehr zum Unterricht kommen, Du musst einfach spielen. Geh und mach es!“]
Welche Botschaft möchten Sie jungen Musikerinnen und Musikern mit auf den Weg geben?
Ich spreche aus meiner Praxis als Lehrer ... ich finde, dass die heutigen Studierenden oft zu wenig Begeisterung in sich tragen, da fehlt oft das Feuer. Oft ist der Wille zu klein, alle Möglichkeiten, die sie in sich tragen, auch auszuschöpfen. Es gibt nur selten Studierende, die ausreichend üben und zu Konzerten gehen und sich wirklich interessieren für alles, was mit Musik zu tun hat. Oft haben sie auch zu wenig Geduld und wollen schon ganz früh Konzerte geben – dadurch haben sie dann zu wenig Zeit zum Üben.
Man sollte als junge Musikerin oder junger Musiker versuchen, sich während seiner Ausbildung ein möglichst umfangreiches Repertoire zu erarbeiten. Alles andere kommt dann später. Es geht darum, dran zu bleiben, diszipliniert zu arbeiten und sich erst dann ins Berufsleben zu stürzen ... so ähnlich hat es mir Feike Asma auch in diesem Brief am Ende geschrieben, da stand: „Für einen jungen Organisten kann es nur eines geben, was wichtig ist: Üben, üben, üben, üben.“ Vier Mal hat er auf das Üben hingewiesen …
Wenn Sie sich mit einem/r Künstler/in oder Komponisten/in aus Vergangenheit oder Gegenwart zum gemeinsamen Musizieren und Plaudern treffen könnten, wäre das… und warum?
Natürlich Bach.
Und natürlich auch Menschen wie Widor und Vierne. Bei ihnen weiß man natürlich genauer, wie sie gespielt und gedacht haben, bei Bach haben wir aber noch so viele Fragen ... und das wäre natürlich interessant.
Insgesamt bin ich aber ein „Neunzehntesjahrhundertmensch“ ... also ich hätte gerne Ende des 19. Jahrhunderts gelebt, das ist so eine interessante und bewegte geschichtliche Periode, nicht nur kulturell, sondern ganz im Allgemeinen. Menschen aus dieser Zeit, Musiker aus dieser Zeit, wären darum natürlich auch sehr interessant. Aber wenn ich mich mit ihnen treffen könnte, dann möchte ich auch gerne in dieser Zeit leben ...
Stefanie Petelin
Ben van Oosten, Dommusikverein Linz/Wolfgang Kreuzhuber