Bischof Manfred Scheuer
Grußwort: Warum ist ein Symposium zur Geschichte interessant?
Verehrte Damen und Herren!
Warum ist ein Symposium zur Geschichte der letzten hundert Jahre, der letzten zweihundert Jahre, was Anton Bruckner anlangt, interessant? Da möchte ich zunächst mit einer Absprache heißt’s von Erich Kästner zum Schulbeginn anfangen: „Lasst euch die Kindheit nicht austreiben! Schaut, die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst, die sie allmählich aufessen, und was gegessen worden ist, existiert nicht mehr.“ Manche machen‘s bei ihrer Lebensgeschichte auch so. Man wird von einer Stufe zur anderen geführt und kann nicht mehr zurück. Aber man müsste eigentlich in seinem Leben wie in einem Haus treppauf und treppab gehen können. „Was soll die schönste erste Etage ohne den Keller mit den duftenden Obstsorten und ohne das Erdgeschoß mit der knarrenden Haustür und der scheppernden Klingel? Nun – die meisten leben so! Sie stehen auf der obersten Stufe, ohne Treppe und ohne Haus, und machen sich wichtig.“ Manchmal leben wir auch in der Zeit so, dass die Geschichte hinter uns zum Beispiel vor dreißig, vierzig oder sechzig Jahren gar nicht mehr existiert, oder so, dass wir die alle für Dummköpfe halten, weil sie noch nicht so gut oder aufgeklärt oder fortschrittlich waren wie wir heute. Aber man sollte treppauf, treppab gehen und sich auch der eigenen Geschichte bewusst sein.
Warum ist ein Symposium zur Geschichte interessant? Wie die Oberösterreicherinnen und Oberösterreicher in den vergangenen Jahrzehnten und auch Jahrhunderten gehandelt haben, gelitten haben? Und ich bin gerade bei einem Interview gefragt worden, was mich denn da so bewegt bei hundert Jahre Dombau oder Domweihe. Mir ist auch eingefallen: Zu diesem Bau gehört ja die Geschichte, gehört das Bauwerk von Menschen, gehört Mauthausen, gehört Hartheim, gehört Gusen dazu, wie da gehandelt, gelitten, gebetet, geglaubt, geflucht worden ist, ob die Menschen geduldig waren oder nicht, wie tolerant sie gewesen sind oder wie eng. Das hat ja Auswirkungen auf das soziale Gefüge, auf das Miteinander in Familien, in den Vereinen, in Betrieben, in einer Gemeinde, auch in einer Diözese. Also, wie nicht nur die Bischöfe zur Zeit des ersten Weltkriegs agiert haben –das beschäftigt uns manchmal heute noch – oder die Auseinandersetzungen in den dreißiger Jahren, die politischen, teilweise auch gewalttätigen Auseinandersetzungen – das hat Auswirkungen, manchmal auf das unmittelbare Vis-a-vis. Menschen früherer Generationen (und mit meinem Großvater verbinde ich zum Beispiel durchaus die Erzählungen Ende 19. Jahrhundert … wie damals ein Schneiderhandwerk ging, manchmal auch in der Landwirtschaft gearbeitet wurde), auch wenn sie tot sind, haben unmittelbar oder mittelbar einen Platz im Herzen, positiv und negativ, als Wunde oder auch als Freude.
Und da ist es wichtig, das Gute, was Gott uns getan hat, durch die Geschichte nicht zu vergessen, aber auch wahrzunehmen, dass die Güter der Gerechtigkeit, der Wahrheit, der Schönheit, der Freiheit ein Gedächtnis brauchen, Zeit brauchen, Beständigkeit brauchen. Und wenn es dieses Gedächtnis nicht gibt, dann degenerieren wir. Und wer die eigene Herkunft vergisst, der vielleicht auch entwurzelt wird, der wird entweder depressiv oder aggressiv.
Es gab im 19. Jahrhundert durchaus – da komme ich jetzt zum zweiten Teil, nämlich eher zur Musik und zur Kunst – die Position des Fortschritts, sozusagen: Das, was bisher gewesen ist, ist dunkle Zeit, Entfremdung. Was kommt, ist Licht, ist Aufklärung. Charles Darwin hat zum Beispiel die Meinung gehabt, dass weder Musikgenuss noch die Fähigkeit, Musik zu machen, evolutionär irgendeinen Nutzen für die Menschen hätten. Er nannte die Musik „mysteriös“. Doch was wäre ein Mensch ohne die Musik, die wie keine andere Kunst so unmittelbar Gefühle evozieren und in den Bann ziehen kann? Musik ist ja mehr als „klingende Luft“, sie ist eine besondere Form menschlicher Expression, vergleichbar mit der Sprache. Musik ist eine Sprache sui generis. Um es mit einem Gedicht von Rainer Maria Rilke zu sagen: Musik ist „Sprache, wo Sprachen enden“. Für den französischen Ethnologen Claude Levi-Strauss macht die verstehbare, aber unübersetzbare Sprache der Musik ihren Schöpfer zu einer Art „göttergleichen Wesen“ und die Tonkunst zum „höchsten Geheimnis der Wissenschaften vom Menschen“.
Musik: Mit Nutzen? Ohne Nutzen? Die Musik des 19. Jahrhunderts war durchaus auch reich an vorsichtigen Versuchen, mit der Macht des Klanges eine transzendente Dimension zu erschließen. Brahms und Bruckner waren von dem Gedanken ebenso fasziniert wie Gustav Mahler. Man kann ihre Musik durchaus als eine Art kulturelle Gegenkampagne gegen den naturwissenschaftlichen Siegeszug des Materialismus interpretieren. Kunst ist vielleicht der „göttliche Kuss“, das ist eine Formulierung von Nikolaus Harnoncourt, der „göttliche Kuss, der den Menschen aus der Schöpfung herausgehoben und eigentlich geschaffen hat“. Kunst braucht ja Inspiration. Und das kommt wörtlich vom „Einhauchen“, heißt einhauchen. Die Kunst ist es, die uns Menschen am weitesten aus allen anderen Lebewesen hervorhebt. Sie ist die Sprache der Liebe, die Sprache der Gefühle, ein Spiegel unserer Seele. Lässt uns in die dunklen Abgründe unseres Selbst blicken, ebenso wie unvorstellbares Glück ahnen.
Ich wünsche uns, dass wir in diesen Stunden unser Gedächtnis kultivieren und auch unsere Seele bewohnen.