Anna Minta
Der Linzer Mariendom und die (Neo-)Gotik.
Ein Stilentscheid zur Form der Kirche und Formung der Gesellschaft.
Bischof Franz Joseph Rudigier nahm das Dogma der unbefleckten Empfängnis Mariens zum Anlass für einen monumentalen Kirchenbau in Linz. Forderte er in seinem Hirtenbrief im April 1855 noch einen „schöne[n] und große[n] Tempel im gothischen oder byzantinischen Style“, so fiel wenig später die Entscheidung zugunsten der gotischen Formsprache.
Hinter dieser Stilentscheidung, so die These, stand nicht nur eine ästhetische Geschmacksfrage, sondern mit der Wahl der (Neo-)Gotik wurde auch in sozialreformerischer Perspektive ein ehrgeiziges Projekt angestrebt. Der Mariendom ist eine architektonische Gegenposition, so Rudigier im gleichen Jahr, gegen die Moderne und den Liberalismus, gegen eine „Welt, die jetzt nur große Eisenbahnen, Kasernen, Arbeits- und Zuchthäuser baut“. Der Dombau muss folglich auch als Versuch der moralischen Mobilisierung und gesellschaftlichen Erziehung im Sinne des Katholizismus gelesen werden. Die konfessionelle Presse wurde zu einem wichtigen Träger künstlerisch-ästhetischer sowie moralischer Aussagen. Der Vortrag analysierte, wie die (Neo-)Gotik als Stilmittel und zugleich als Projektionsfläche zum Bau der Kirche und der Gesellschaft instrumentalisiert wurde.
Univ.-Prof. Dr. Anna Minta
Anna Minta, 1970 in Düsseldorf geboren, ist seit 2016 Professorin für Geschichte und Theorie der Architektur an der Katholischen Privat-Universität Linz (Habil 2013 Uni. Bern zu Staatsarchitektur und Sakralbauten in den USA; Diss 2004 Uni. Kiel zu Architektur, Siedlungsbau und Denkmalpolitik in Israel nach 1948). Ihre Schwerpunkte bilden Architektur, Städtebau und Raumsoziologie der Moderne. Aktuell forscht sie zu gemeinschaftsstiftenden Raumkonstruktionen und Sakralisierungsprozessen in der Architektur. Sie hat umfangreich publiziert zur Architekturgeschichte in Europa, Israel und den USA sowie zur Vereinnahmung von Architektur, öffentlichen Raum und kulturellem Erbe in Identitätskonstruktionen und Herrschaftsdiskursen.