1869 – Weihe der Votivkapelle
Anton Bruckner erhielt 1866 von Bischof Franz Joseph Rudigier (1811–1884) den Auftrag, für die Einweihung der Votivkapelle des seit 1862 im Bau befindlichen Linzer Mariendoms eine Messe zu komponieren. So berichteten die Katholischen Blätter bereits am 26. September 1866: „Der unübertreffliche und geniale Domorganist in Linz, Herr Anton Brukner [sic!], dessen Meisterschaft sich in der Composition bereits mehrmals rühmlichst bewährt hat, wird zur gottesdienstlichen Feier dieses Tages eine eigene Messe componiren.“ Bruckners erste Fassung der Messe in e (WAB 27) entstand zwischen August 1866 und 25. November 1866 in Linz. Seinem Auftraggeber widmete er die – wie er sie dort nennt – Messe für Doppelchor und Harmoniebegleitung schließlich auch, wie das Widmungsexemplar vom 22. November 1866 verrät: „Seiner Bischöflichen Gnaden dem Hochwürdigsten, Hoch- und Wohlgebornen Herrn Herrn Franz Joseph Rudigier Seiner päpstlichen Heiligkeit Hausprälaten und Thronassistenten, römischen Patrizier, Commandeur des kais. österr: Leopold-Ordens, ständigen Mitgliede des oberösterreichischen Landtages, k. k. Hofkaplan etc. etc. in tiefster Ehrfurcht gewidmet von Anton Bruckner“.
Bei der Messe in e für achtstimmigen gemischten Chor und Bläser handelt es sich wohl um die ungewöhnlichste Messe Bruckners, die in ihrem Klangbild einmal mehr Altes mit Neuem verbindet, was als deutlicher Ausdruck von Bruckners künstlerisch-religiösem Konzept gedeutet werden kann.
Aufbau und Text |
Kyrie.
Gloria.
Credo.
Sanctus. Benedictus.
Agnus Dei. |
Durch Verzögerungen beim Bau fand die „Consecrations-Feier der Votiv Kapelle des Mariä-Empfängniss-Domes in Linz“ allerdings erst drei Jahre nach der Entstehung der Komposition am 29. September 1869 statt. Die Feier am Michaelstag fand unter freiem Himmel statt – was für die Wahl der Besetzung aber definitiv keine Rolle gespielt hat, denn Bruckner schrieb am 20. Mai 1869 an Domdechant Johann Baptist Schiedermayr (1807–1878): „H Waldeck schrieb mir, meine Messe würde schwer aufzuführen sein, wegen des Raumes. Ich bitte Euer Gnaden, gütigst Sorge tragen zu wollen, dß selbe doch von den Damen und Herren der Liedertafel u des Musikvereins gut jetzt schon studirt werde; denn auf dem Chore ist wohl zu nichts Platz, aber wir können selbe ja im Freien aufführen mit oder sogar ohne Tribüne. Will man aber nur eine kleine Messe u nicht meine aufführen, so ists mir auch recht.“ Bruckner sorgte sich um die Qualität der Aufführung, denn bereits einen Monat später (19. Juni 1869) kontaktierte er Schiedermayr erneut: „Waldeck schrieb mir es habe ihm Weilnböck gesagt, wenn die Messe nicht jetzt schon mit den Musikvereins Schülern studirt wird, kann es nicht mehr geschehen, u sie können selbe nicht mehr erlernen später; denn sie ist schwer.“ Das verrät auch Bruckners Schreiben an Johann Herbeck (1831–877) in Wien vom 13. September 1869: „Ich sitze stabil bis mich meine Zeit nach Wien ruft, im Priesterseminar zu Linz, u. plage mich schrecklich mit dem Einstudiren meiner 8 stimmigen Vocal Messe“ – denn unglaubliche 28 Proben sollen in Linz vor der Aufführung stattgefunden haben.
Im Linzer Volksblatt erfolgte bereits am 13. September 1869 – noch vor der Uraufführung – eine Vorbesprechung der Messe in e – der Rezensent, vermutlich Josef Seiberl (1836–1877), bezeichnete Bruckners Messe als „in jeder Beziehung [...] contrapunctisches Meisterwerk, eine durchwegs originelle Composition“, in der man überall „der würdigsten Auffaßung der erhabenen Textworte“ und „dem edelsten, musikalischem [sic!] Ausdruck“ begegne. Weiter heißt es darin: „Auf tausendfach verschlungenen Wegen brausen die gewaltigen Tonwellen daher und bilden in der wundervollsten Harmonie einen mächtigen Strom, der das Herz mit Gewalt packt und fortreißt zu demuthsvollster Andacht, zu frommer Begeisterung, zu freudigem Jubel, wie zu der tiefsten Rührung.“ Das Kyrie reiße „geradezu zur Bewunderung“ hin, das Gloria sei „großartig und effektvoll“, das Credo mache „den gewaltigsten und erhabensten Eindruck“, das Sanctus klinge „außerordentlich schön“, das Benedictus sei schließlich der „harmoniereichste, zugleich aber auch der schwerste Theil der Messe“, bei dem es Zuhörenden „wie heiligen [sic!] Schauer durch die Seele“ laufe, wobei man „Bewunderung für den genialen Tonsetzer“ empfinde, und „herrlicher, tiefer empfunden“ könne der Text des Agnus Dei kaum mehr sein, sodass der Rezensent konstatiert: „Wir gratuliren dem Herrn Professor Bruckner aus vollster Seele zu dieser großartigen Schöpfung und zweifeln nicht, daß ihm auch die höchste Anerkennung dafür zu Theil werde.“
Am 29. September 1869 erfolgte schließlich unter Bruckner die Uraufführung der Messe in e durch den Männergesangs-Verein Sängerbund, Mitglieder der Liedertafel Frohsinn und des Linzer Musikvereins sowie Bläsern der Militärmusik. Ob es sich bei der Militärmusik tatsächlich um Musiker der Militärmusik des k.u.k. Infanterieregiments Nr. 14 Ernst Ludwig, Großherzog von Hessen und bei Rhein handelte, ist allerdings fraglich, da dieses Regiment zu dieser Zeit nicht in Linz stationiert war; möglicherweise waren hier also Musiker des Infanterie-Regiments Nr. 11 und 63 im Einsatz. Die Linzer Zeitung vom 30. September 1869 berichtet von der Uraufführung: „Um 11 Uhr wurde sodann in der Capelle von dem hochwürdigsten Herrn Bischofe das heilige Hochamt celebrirt, bei dessen Beginne am Giebel der Votivcapelle die Kirchweihfahnen aufgezogen wurden. Hiebei fand unter Mitwirkung der bewährtesten Musikkräfte von Linz und Umgebung die Aufführung einer von unserem bewährten früheren Domorganisten, nunmehrigen k. k. Hoforganisten und Professor des Wiener Conservatoriums, Herrn Anton Bruckner, für diesen Zweck eigens componirten und von ihm selbst dirigirten Dombau-Festmesse in vorzüglicher Weise statt, welche durch ihren genialen Schwung im Allgemeinen und die zahlreichen Schönheiten in Besonderem der seltenen Feier, zu deren Verherrlichung sie geschrieben wurde, in jeder Beziehung vollkommen würdig war.“
Auch Johann Evangelist Habert (1833–1896) widmete sich in seiner Zeitschrift für katholische Kirchenmusik (Nr. 11/12) der e-Moll-Messe und kommentierte die genutzten Klangkörper, die für die damaligen Ohren überraschend eigenartig geklungen haben müssen (mit dieser Besetzung steht die Messe um 1866 singulär da!): „Die Messe ist für 8 Singstimmen geschrieben: 2 Sopran, 2 Alt, 2 Tenor und 2 Bässe. Da sie im Freien aufgeführt werden musste, so wurden als Begleitung beigegeben 2 Oboen, 2 Clarinetten, 2 Fagotte, 4 Horn, 2 Trompeten, 3 Posaunen. Lieber Leser, der du etwa der Instrumentalmusik nicht sehr gewogen bist, du wirst vielleicht lachen oder dich ärgern über diese Menge von Blasinstrumenten. Ich versichere dich erstens: dass die Zusammenstellung der Vollständigkeit wegen nicht anders sein kann, und zweitens: dass Herr Bruckner recht gut weiss, wie man solche Instrumente behandeln muss.“ Zum Erlebnis der Aufführung der Messe hielt Habert fest: „Als die letzten Akkorde verklungen waren, stand ich da, und hätte gerne so recht von Herzen geweint, denn diese zwei Sätze, Kyrie und Gloria hatten mich mächtig ergriffen. Ich sehnte mich allein, ungesehen zu sein, um meinen Gefühlen freien Lauf lassen zu können. Das muss eine gute Musik sein, die eine so mächtige Wirkung, so edle Gefühle hervorzubringen im Stande ist. Mit Verehrung sah ich auf den Kompositeur, der die Aufführung leitete, von dem ich bei dieser Gelegenheit das erste Werk hörte.“ Gleichzeitig berichtete Habert aber auch von einem Missgeschick im Sanctus: „Bei Dominus Deus Sabaoth treten die Blechblasinstrumente hinzu, und heben die Worte, welche auf den einzigen D-dur Akkord gesungen werden, kräftig hervor. Leider wurde die beabsichtigte Wirkung vereitelt, da die Sänger gesunken waren und so statt einer kräftigen Harmonie eine gräuliche Disharmonie hervorgebracht wurde. Wer weiss, dass das Vorhergehende sehr anstrengend zu singen ist, wird gewiss sehr gerne die Lossprechung ertheilen.“ Und weiter: „Die Aufführung selbst muss man als eine ganz gelungene bezeichnen; das eine Malheur im Sanctus kann man schon passiren lassen.“
Auch Habert identifizierte als „schwierigste Parthie der Messe“ das Benedictus, für das man Kräfte brauche, „die man gewöhnlich nicht hat“, was die Ursache dafür sei, dass man „ein Werk, das man öfter hören soll, nicht hören kann“ und sich so „beinahe selbst vom Repertoir [sic!]“ ausschließe – zusammenfassend bemerkte er: „[U]nd das ist schade.“ Denn die Komposition zähle für ihn „zu den bedeutendsten der Gegenwart“ – und er betont: „Bin ich auch in manchen Punkten anderer Ansicht, so hindert mich das nicht zu sagen, dass ich diese Messe sehr hoch schätze, und weit höher stelle als so viele andere Messen, von welchen uns in der Neuzeit beinahe Wunder erzählt wurden.“
Der Bruckner-Forscher Leopold Nowak (1904–1991) hält zum Auftraggeber Franz Joseph Rudigier der e-Moll-Messe anlässlich der hundertsten Wiederkehr ihrer Uraufführung 1969 fest: „Wenn er auch seine Vollendung nicht erlebte, so hat er doch ein anderes ‚vollendetes‘ Werk gehört, das mit diesem seinem Dom innigst zusammenhängt und das ihm sicher große Freude bereitet hat: jene Messe, die vor hundert Jahren, am Fest des hl. Erzengels Michael, am 29. September 1869, zur Einweihung der Votivkapelle erklang.“ Nowak berichtet in seinem Aufsatz zur e-Moll-Messe auch von der Anekdote, dass Bruckner die Pianissimo-Stellen nicht leise genug sein konnten, sodass die Sänger:innen schließlich überhaupt nicht mehr sangen und der dirigierende Komponist die Akkorde nur noch mit seinem inneren Ohr hörte. Diese Anekdote findet ihre Bestätigung im Stimmenmaterial zur Uraufführung, in denen sich an solchen Pianissimo-Stellen bis zu vierzehn p aneinandergereiht, vorfinden.
Der Gesamteindruck der Uraufführung muss – trotz des Malheurs im Sanctus – für Ausführende wie Zuhörende gewaltig gewesen sein. Bruckner bedankte sich wenige Wochen am 19. Oktober 1869 später bei Bischof Franz Rudigier dafür, „daß die Widmung so liebevoll angenommen wurde, und daß meine schwachen Leistungen gewürdigt wurden, zu einer so großartigen Feierlichkeit ertönen zu dürfen“. Weiter hielt er fest: „Ewigen Dank dafür! Doch nicht genug mit solchen Ehren, die mir so unverdient zutheil wurden; bischöfliche Gnaden honorierten mich in einer Wise, die mich höchst staunen macht. Mit großer Rührung nehme ich im Gefühle meiner Unwürdigkeit dies große Geschenk als bischöfliche Gnade“ – denn Bruckner hatte nicht nur zweihundert Gulden erhalten, sondern durfte am Festtag auch bei der bischöflichen Tafel dabei sein. Dies muss sich Bruckner tief ins Gedächtnis gebrannt haben, schreibt er doch sechzehn Jahre später am 18. Mai 1885 an den als Dom- und Chorvikar bzw. Chordirigent an der Votivkapelle des Mariendoms tätigen Johann Baptist Burgstaller (1840–1925): „Die Messe, dem hochsel Hochwürdigsten Bischofe gewidmet, gehört dem Dombau=Vereine. Ich habe Änderungen vorgenommen, u dürfen die jetzt noch in die Stimmen eingetragen werden? Da ein neuer Bischof regiert? Die Messe ist Vocal, mit Holz- und Blechharmoniebegleitung ohne Streichinstrumente. 1869 von mir einstudirt u dirigirt an dem herrlichsten meiner Lebenstage bei der Einweihung der Votivkapelle. Bischof und Statthalter toastirten auf mich bei der Bischöfl. Tafel.“ Die Änderungen stammen aus den Jahren 1876 und 1882 – er unterzog seine Messe einer rhythmischen Durchsicht, kontrollierte Periodenbau und die Architektur, er „restaurirte“ sie, wie er diese Durchsichten bezeichnete. Trotz all dieser Überarbeitungen änderte Bruckner eine Stelle in der e-Moll-Messe nicht – in der Partitur vermerkte Bruckner im Gloria beim Jesu Christe: „NB Misterium (unerwartet nach dem 7. Tact d Periode)“ – Felix Diergarten deutet dies als bewussten Regelverstoß gegen die eigene musikalische Wissenschaft, „um ein Mysterium des Glaubens darzustellen, das höher ist als alle Vernunft“ (S. 64).
Die e-Moll-Messe wurde 1885 erneut aufgeführt – zum Diözesanjubiläum, für das musikalisch Burgstaller verantwortlich zeichnete. Das Linzer Volksblatt berichtete dazu am 1. Oktober 1885: „Damals, vor 16 Jahren, wurde die große Messe von Bruckner aufgeführt, welche wir am nächsten Sonntag im alten Dome hören werden.“ Im Vorfeld der Aufführung im Rahmen des Diözesanjubiläums muss es nämlich zu größeren Unstimmigkeiten gekommen sein – geplant war die Aufführung der Messe in e, des Ecce sacerdos sowie des Ave Maria durch den Chor des Alten Doms als Gast im Mariendom, der Chor des Mariendoms hätte dort das Virga jesse musizieren sollen – doch wenige Tage vor der geplanten Aufführung hatte Burgstaller im Linzer Volksblatt vom 29. September 1885 dann verlautbart, dass Bruckners Messe entgegen der ursprünglichen Planung im Alten Dom aufgeführt werde: „Um sich denen gegenüber zu rechtfertigen, welche die Aufführung obiger Tonwerke im neuen Dom lieber gesehen hätten, weil Bruckner sie für den Mariä Empfängniß=Dom komponirt hat, bemerkt der Gefertigte, daß er seinerseits alle Schritte gemacht und Alles aufgeboten hatte, um die Aufführung derselben im neuen Dome zu erreichen. Aber zur Vermeidung von Collisionen mit dem verehrl. Chore des alten Domes und damit diese Werke sicher aufgeführt werden können, wurde nachgegeben und von der ersten Idee abgegangen und so wird der alte Dom die Bruckner'sche Messe erschallen hören!“
Besser als Nowak kann man es wohl nicht zusammenfassen: Mit seiner e-Moll-Messe hat Bruckner dem Mariendom „einen Dom aus Tönen zur Seite gestellt, der Gottesmutter zu Ehren und Bischof Rudigier, dem dieses Werk gewidmet ist, zum Lob; uns allen aber zu immerwährendem Glauben an einen allmächtigen Gott, der zur Welt spricht, durch wen immer und wie immer ER will“.
Quellen:
Diergarten, Felix (2023): Anton Bruckner. Das geistliche Werk. Salzburg/Wien: Müry Salzmann Verlag.
Katholische Blätter, 26. September 1866.
Linzer Volksblatt, Nr. 209, 13. September 1869.
Linzer Volksblatt, Nr. 222, 29. September 1885.
Linzer Volksblatt, Nr. 224, 1. Oktober 1885.
Linzer Zeitung, Nr. 224, 30. September 1869.
Nowak, Leopold: 100 Jahre e-Moll-Messe von Anton Bruckner [1969]. In: Nowak, Leopold (1985): Über Anton Bruckner: gesammelte Aufsätze 1936–1984. Wien: Musikwissenschaftlicher Verlag. S. 102–105.
Zeitschrift für katholische Kirchenmusik, Nr. 11/12 (1869).
Stefanie Petelin
Diözesanarchiv Linz | Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin