Jeremias Gotthelf
„Ich war bei der Thüre eingetreten, wo meine Orgel stund, und dort stehen geblieben, weil ich nicht weiter durfte. Die Orgelthüre stand zufällig offen und zufällig, wenn nämlich etwas zufällig ist, legte ich meine Hand auf die Tasten.
Ein Ton voll und tief rauschte auf aus der Orgel Brust, welcher der Mensch Leben und Atem gibt. Wohl schrak ich im ersten Augenblicke zusammen und glaubte, die Orgel vergessend, ein Geist erhebe seine Stimme; aber der gleiche Ton löste alsobald den Schrecken wieder und klang wie Freundes-Stimme in meine Seele hinein. Unwillkürlich setzte ich mich zu diesem Freunde hin und lockte seine Stimme ins Leben. Da schwand das Beben aus meinen Gliedern, die Gestalten schwanden, das Pfeifen und Girren verlor den geheimnisvollen Schauer, und allmählich kam über meine Seele eine wunderbare Beruhigung. Ich konnte nicht phantasieren. Es kam mir so wenig in den Sinn, daß man aus der Seele etwas spielen könne, als es andern einfällt, daß man aus dem Herzen beten könne. Hat man kein Buch bei der Hand, so hält man sich wenigstens an die auswendig gelernten Worte oder Töne. Aber das Herz läßt sich seine Rechte nicht nehmen, und ohne daß es der Betende oder Spielende weiß, legt er es hinein in die Worte und Töne und saugt aus ihnen Trost, Frieden, Kraft. Der feierliche 104. Psalm war es, der in meine Seele drang, der auch den Bann des Herzens löste, das dumpfe Brüten über meinem Elend verwandelte in stille Ergebung und in mir die Keime des Glaubens weckte, daß denn doch nicht alles verloren, daß ich nicht ganz verworfen sei; – der eine Ahnung mir dämmern ließ, daß ich von meinem Falle mich erheben und ein anderer werden könne, daß vieles eitel sei, aber doch nicht alles. Nichts von diesem kam mir zum Bewußtsein und trat deutlich hervor. Es wogte in mir bunt durcheinander, wie im Anfang es gewesen sein muß, als der Geist über dem finstern Chaos schwebte, als Gott sprach: es werde, als das Schaffen begann, aber noch nichts geschaffen, vollendet, vom Lichte der Sonne erleuchtet da stand.
Ich fühlte nur, daß mir unendlich wohl ward, daß mein Herz erleichtert, meine Seele freier geworden. Und als ich zu spielen aufhörte, empfand ich eine gewisse Ruhe, eine Kraft, dem folgenden Tage entgegen zu gehen, die ich bisher nicht gekannt hatte. Ohne Seufzen konnte ich mich niederlegen, konnte mich am folgenden Tag der Sonne wieder freuen, die nach wilder Sturmesnacht in goldenem Glänze ihr herrlich Antlitz erhob und freundliche Blicke in mein Stübchen sandte.
Von da an blieb die Orgel mein tröstender Freund.“
(Jeremias Gotthelf, Leiden und Freuden eines Schulmeisters, 1838)