Ilse Frapan
„Josefine empfand plötzlich Sehnsucht nach Musik, sie, die ihr Ohr als stumpf und empfindungslos kannte. Sie nahm Rösli an die Hand und ging mit ihr ins Großmünster, zum Orgelkonzert.
Viele Studenten waren dort, alle sahen die schlanke schwarze Frau mit dem weißgekleideten Kinde kommen. Manche grüßten sie, aber sie dankte nur wenigen, denn sie sah niemand in den Farben des Lebens – die Menschen, die anderen Menschen waren für sie zu Schemen verblaßt.
Der Orgel gegenüber, im Chor, auf einer der langen Bänke ohne Lehne nahmen sie Platz. Aber die Bank knarrte erbarmungslos, und Josy flüchtete sich mit der Kleinen in einen dunklen, dicht an die Mauer gedrückten Kirchenstuhl.
Die Orgel begann, gegen ihre Gewohnheit, wie es der Hörerin schien, leise und bebend, als schauerten Tropfen herab, klingende, warme Regentropfen, weich und voll und doch säuselnd und zart. Und Josefine war es, als ob ihr Herz sich öffne, und ihre Seele wurde wie ein dürstendes Erdreich, das sich dem sanften Perlenregen entgegenbog. Aber allgemach fielen die Tropfen seltener und wurden größer, und jeder der Tropfen hatte eine andere Stimme, und es waren keine Tropfen mehr, es waren goldene Kugeln, die in einem plötzlich aufschießenden Springquell spielen. Und nun werden aus den goldenen Kugeln kleine klingelnde Schellen und große, sanft hallende Glocken. Und nun unterreden sie sich miteinander, die kleinen klingelnden Schellen und die großen hallenden Glocken; erst ein aufgeregtes Flüstern von den kleinen zwitscherhellen, nun ein machtvolles Dröhnen von den großen ruhigen. Und nun fangen sie an, durcheinander zu rufen, immer tiefer, immer heller, immer dröhnender, immer spitziger, und plötzlich – fängt der Turm, in dem die Glocken hängen, mit an. Er erzittert von oben bis unten, er schwankt von einer Seite auf die andere, er kracht, er donnert, er reißt auseinander, er stürzt zusammen! O – da ist der sanfte Regen wieder, will das wilde Brausen hinwegschmeicheln, eine kleine Weile klingeln ängstlich, wimmernd, sterbend die Silberglöckchen. Aber Feuerstürme brechen aus, die Berge wanken und bersten, die Erde bebt, es grollt aus ihren Schlünden, eine Welt – eine Welt will untergehen! – Ruhe! Freude! Feierlich in großen breiten Wellen rollt es heran über die zerstörte Welt, breite Strahlengarben schießen über weite, leuchtende, unendliche Wasserspiegel – ein schwaches dumpfes Stöhnen – ein süßes allgemeines Klingen – die ganze Luft Musik – Ende.
»Da die Weissagungen aufhören werden«, fühlte Josefine, und es schien ihr, als liege vor ihr das große Geheimnis des Lebens in heiliger Unschuld, in Sieg und Verklärung, und sein Name sei Schönheit und Größe und unerschöpfliche Liebe. –
Und neben ihr sitzt Rösli, die langen, schwarzen Beinchen eingeschlagen, die Hände zusammengedrückt, und sieht sich staunend um.
Zum erstenmal ist sie in einer Kirche. Rösli sieht die Fenster an, die langen, staubigen, schmalen Fenster und denkt: Das sind also Kirchenfenster? Der Himmel ist ebenso blaßblau dahinter wie hinter anderen. Sie sieht die grauen Steinfliesen an und denkt: Die sind aber kalt! Und sie tippt nach dem grauen, dicken, viereckigen Pfeiler vor ihr. Der ist auch kalt, aber das braune Holzwerk der unbequemen Stühle und der kleinen gewundenen Treppe dort, das Holz sieht ordentlich warm aus. Stufe für Stufe wandern Röslis Augen die kleine braune Holztreppe hinauf – da oben muß es nett sein! Wenn sie da hinauf könnte! – Da – was ist denn das da? Ein Kirchenfenster kann es doch nicht sein, da gegenüber? Ich bin kurzsichtig, denkt Rösli, Mama hat es gesagt. Wenn man die Augen zukneift, wird das da drüben etwas ganz Merkwürdiges. Ein Männergesicht wird es, mit einem Schnurrbart und einer Pfeife und einer runden hohen Mütze. Ganz in einen dicken Überzieher ist der Mann eingewickelt, der Kragen geht bis halb über den Hinterkopf. Er hört unbeweglich zu. Die Musik ist so groß! Der Mann raucht, aber keine Wolke steigt aus seiner Pfeife ... Rösli kann die Augen nicht abwenden. So gemütlich sitzt er da im Fenster, als wäre er hier der Hausherr! Ein freudiger Schreck durchzuckt Rösli: Wie, wenn es der liebe Herrgott wäre? Dies ist ja die Kirche, man sagt auch Gotteshaus. Also wird er es wohl selber sein! Rösli starrt und starrt. Er sieht so freundlich aus, aber doch nicht wie Menschen. Sein Gesicht ist farblos wie Silber. Oder wie durchsichtig. Es wird Rösli immer klarer, daß er es ist. Und sie faltet ihre Hände fest und sieht ihn entzückt an – –
Die Musik ist aus. Josefine erhebt sich. Als sie draußen sind – die Allerletzten, zupft Rösli ihre Mutter, die gar nicht hört: »Mama, weißt du, wer da war?«
Die Mutter hört nicht; ungeduldig zupft die Kleine: »Hast du ihn auch gesehen, den lieben Herrgott?«
»Ja«, sagt die Frau zusammenschreckend und wundert sich über ihr Kind und wundert sich doch nicht. Es ist ihr so süß-schaurig, daß die Kleine immer mit ihr ist in diesen Entzückungen.
Sie halten sich fest an den Händen ...“
(Ilse Frapan, Arbeit, 1903)