Ida Hahn-Hahn
„Um mich zu zerstreuen, geriet ich auf einen seltsamen Einfall. Ich ging in die Sakristei und bat um Erlaubnis, die Orgel spielen zu dürfen, da ja jetzt während einiger Stunden kein Gottesdienst stattfinde; ich sei ein Musiker aus Rom, und die Orgel mein eigentliches Fach. Sie wissen, Signora, daß dies die volle Wahrheit ist, daß meine Eltern mein Talent für die Kirchenmusik ausbilden ließen und daß sogenannte Freunde mich später in das Bühnenorchester und so weiter! und so weiter lockten! aber die Orgel blieb mein Lieblingsinstrument, und in Einsiedeln überfiel mich das Verlangen, sie zu spielen. Mein Wunsch wurde gewährt; doch mit kluger Vorsicht. Man kannte mich ja nicht! ich konnte ein Stümper sein oder ein Böswilliger, der durch schlechtes Orgelspiel die Andächtigen verletzte oder ärgerte. Man führte mich auf eine Orgelbühne, die zu einem Oratorium gehören mochte; und da fand ich ein herrliches Instrument. Ich war ganz allein, ganz ungestört. Durch die Fenster, die mehr als mannshoch vom Fußboden angebracht waren, schaute der[62] reine Septemberhimmel wie ein tiefblaues Augenpaar auf mich herab. Außerdem sah und hörte ich nichts von der ganzen Welt. Ich setzte mich an die Orgel. Die Anklänge des gestrigen Abends gingen mir noch durch die Seele. Ich entfesselte eine Welt von Tönen. Alle Klagen der Menschenbrust, vom Jammerschrei bis zum Todesseufzer rief ich wach und ließ ihre Wogen steigen, wachsen, schwelen, bis sie mir selbst über dem Kopf zusammenschlugen und nicht ich mehr sie beherrschen konnte, sondern ein höherer Meister; und wer? Pergolese! an seinem himmlischen Stabat mater brach sich die steigende Flut. Erinnern Sie sich, Signora, wo Sie zuletzt das Stabat sangen und ich Ihren Gesang begleitete? In der letzten Charwoche war's, zu Paris, in der Kapelle der Klosterfrauen von Notre-Dame-de-Sion – da war's! da sangen Sie mit Ihrer Erzengelstimme, großmütig wie immer, für den Zweck dieses Ordens: die Bekehrung der Juden in Jerusalem. Seitdem hatte ich nicht an das Stabat gedacht. Nun fiel es mir ein. Nun tauchte aus den Schmerzen einer Welt – das Kreuz auf, und alles irdische Wehegeschrei verstummte vor der übermenschlichen Klage eines Herzens, das unter dem Kreuze stand ›pertransivit gladius‹. Ich weiß nicht, wie lange ich spielte. Ich schwamm, ich badete in diesen Melodien einer höheren Sphäre; ich durchwob sie mit meinen Phantasien, ich ließ alle Verzweiflung der Erde und alles Wutgeheul der Hölle in sie hineingellen; aber nur um so mächtiger rauschten die Ströme himmlischer Harmonie auf sie herab, und wie ein stiller silberweißer Schwan zog das Stabat durch die tobende See und stellte das Kreuz immer fester, immer leuchtender auf ein zermalmtes Mutterherz.
Endlich kam ein dienender Bruder mit der Bemerkung, daß der Abend sinke, und daß ich doch ja nicht die Prozession versäumen möge, welche beginne, sobald es ganz dunkel sei. Ich riß mich mühsam von meiner Orgel los und eilte in's Freie.“
(Ida Hahn-Hahn, Maria Regina, 1860)